Die Physiotherapie, aber auch eine genaue Überprüfung der Medikation tragen dazu bei, dass Bewohner in Mülheim wieder auf die Beine kommen.    
Foto: Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr
Die Physiotherapie, aber auch eine genaue Überprüfung der Medikation tragen dazu bei, dass Bewohner in Mülheim wieder auf die Beine kommen.    

Mobilisation

Zwölf Heime, die die Altenpflege entstauben wollen

Die therapeutisch-rehabilitative Pflege der Evangelischen Altenhilfe Mülheim wirkt so gut, dass manche Bewohner wieder nach Hause gehen. Begleitet von der AOK Rheinland/Hamburg erproben nun weitere Heime das Konzept 

Die Publikumsmedien schauen immer nur auf das, was schlecht läuft, berichten am liebsten über Skandale. Diese Klage ist oft zu hören aus der Altenpflege-Branche. Doch so ganz stimmt das nicht: Über die „therapeutische Pflege mit rehabilitativen Ansatz“ des Haus Ruhrgarten und Haus Ruhrblick ist recht viel zu hören: Die Süddeutsche Zeitung widmete ihr gleich mehrere Seiten in einer Wochenendausgabe; im Morgenmagazin (ARD) hatte Oskar Dierbach erst kürzlich, Ende März, Gelegenheit, seinen Ansatz in einem Live-Auftritt zu erklären. Der gelernte Altenpfleger war bis vor kurzem geschäftsführender Pflegedienstleiter der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr, zu der die beiden Häuser Ruhrgarten und Ruhrblick gehören. Das Konzept der „therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Ansatz“ hat er selbst entwickelt.

Oskar Dierbach: Altenpflege noch immer defizitorientiert

Und wie funktioniert es nun, dieses Konzept, das die Altenpflege mit Rehabilitation verbindet? Grob gesprochen geht es darum, körperliche, kognitive und seelische Einschränkungen bei Bewohnern nicht einfach hinzunehmen und durch Hilfsmittel wie Rollstuhl und Schnabeltassen zu manifestieren. „Altenpflege hat das Prinzip der Defizitorientierung bis heute nicht überwunden“, sagte Oskar Dierbach von gut einem Jahr im Interview mit pflegen-online. „Stets wird gefragt, was ein Mensch nicht kann. Aber es gibt eine große Zahl von Menschen, die zwar in eine starke körperliche, seelische, soziale Einschränkung geraten sind – die man aus dieser Situation aber wieder herausholen kann.“ Dafür, das macht Dierbach im Interview ganz deutlich, ist mehr nötig als zwei physiotherapeutische Sessions in der Woche.

Pflegekräfte, Apotheker, Ärzte und Physiotherapeuten involviert 

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Oskar Dierbach schildert im Interview, wie die interdisziplinären Teams die Idee in der Evangelischen Altenhilfe Mülheim konkret umsetzen: „Bei jeder Aufnahme findet zunächst ein Eingangskonsil statt, aus dem wir die Therapieziele ableiten. An den Beratungen nehmen ein Apotheker, ein Neurologe, ein Internist, die Physiotherapeuten und Pflegekräfte teil. Dieser enge Austausch wird im Alltag fortgesetzt. Das heißt, dass die Fachpflegekraft beispielsweise den Apotheker direkt anruft, um Beobachtungen zu schildern und nach Zusammenhängen zu fragen. Diese Information kann sie wiederum mit dem Internisten besprechen, um etwa ein Medikament zu ersetzen und Nebenwirkungen zu verringern. So etwas muss kontinuierlich geschehen, damit die Wirkung des Eingangskonzils nicht verpufft – und zwar zwischen allen Beteiligten. Das ist die hohe Kunst innerhalb der Einrichtung und eine ständige Aufgabe der Leitung: dafür zu sorgen, dass diese Begegnungen zwischen den Verantwortlichen, die alle nicht über Langeweile klagen, tatsächlich stattfinden.“

Eine Dame mit Hirnblutung lernte wieder laufen …   

Wie wirkungsvoll die therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen wirken kann, macht Dierbach an einem Beispiel deutlich: „Wir hatten eine Dame bei uns, Anfang 80, mit der Diagnose: nur in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Auf Anfrage unseres Neurologen nahmen wir sie dennoch auf. Nach einer Hirnblutung hatte sie mehrere Kliniken bis zur Gerontopsychiatrie durchlaufen. Sie wurde lange sediert und über Sonde ernährt, ihre Denk- und Merkfähigkeit war komplett gestört. Nachdem wir die Medikamente, insbesondere die Sedativa, reduziert hatten, entwickelte sie in den Nächten Wachheitsphasen. Also begannen wir nachts mit der Essens- und Trinkversorgung, weil wir sie immerhin aufsetzen konnten. Durch weitere Arzneimittelreduzierung schaffte sie es, nach Monaten erstmals wieder aus dem Bett aufzustehen. Mit der Hilfe von zwei Pflegekräften konnte sie ein paar Schritte laufen, auch das fand aufgrund des gestörten Tag-Nacht-Rhythmus zunächst nur nachts statt.“

… und lebte noch viele Jahre zu Hause mit ihrem Mann

Dierbach weiter: „Nach dieser Grundstabilisierung haben wir das Bewegungs- und Kognitionstraining schrittweise fortgesetzt. Durch Lichttherapie konnte ihr Tag-Nacht-Rhythmus normalisiert werden. Was aber nicht heißt, dass ihre Aktivitäten sich plötzlich nach dem Zeitplan der Evangelischen Altenhilfe richteten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Sie können Menschen, die Traumatisches erlebt haben, nicht in die Zeitpläne einer Rehaklinik pressen. Stattdessen müssen Sie schauen: Welche Taktung gibt uns dieser Mensch vor – und wie können wir diese Taktung langsam mit unserer eigenen synchronisieren. Sie blieb achteinhalb Monate bei uns, dann konnten wir sie entlassen. Danach hat sie jahrelang mit ihrem Mann zuhause gelebt.“

Wichtig: Reha-Leistung in Pflegeversicherung integrieren 

Die Erfahrungen in Mülheim legten nahe, so Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, dass sich die Gesellschaft eine patientenorientiertere und bessere Pflege nicht nur leisten könne: Sowohl Pflegebedürftige als auch die Volkswirtschaft profitierten sogar davon. So habe sich gezeigt, dass die Krankenhauskosten der Bewohner in Mülheim 40 Prozent unter denen der anderen Versicherten in nordrhein-westfälischen Heimen liegen.

Eine wichtige Voraussetzung sei allerdings, so der AOK-Mann, dass die Grenzen zwischen Kranken- und Pflegeversicherung abgebaut werden. „Es ist sinnvoll, Therapie- und Rehabilitationsleistungen in die soziale Pflegeversicherung zu integrieren“, sagt Matthias Mohrmann. Zurzeit werden die Kosten für die Rehabilitation im Rentenalter von den Krankenkassen gezahlt. Die zeigen sich in der Regel aber zurückhaltend bei der Kostenübernahme, weil sie die negativen Folgen einer ausbleibenden Reha, sprich, die Pflegebedürftigkeit, nicht finanzieren müssen. 

Auch Pflegekräfte profitieren von der therapeutischen Pflege

Oskar Dierbach ist sich sicher, dass auch die Pflegekräfte von der therapeutischen Pflege profitieren:  „Im Alltag sind es die Pflegekräfte, die unmittelbar an der Seite der Menschen stehen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen – das macht sie zu Schlüsselfiguren, durch die Rehabilitation überhaupt stattfinden kann. Sie erkennen den richtigen Augenblick und setzen dann selbst therapeutische Elemente um. Wir haben bei unseren Mitarbeitenden eine durchschnittliche Beschäftigungsdauer von knapp 20 Jahren. Wenn Sie es schaffen, eine Pflege zu etablieren, in der das Team den Menschen gerecht werden kann, fördern Sie nicht nur die Kontinuität in einer Einrichtung, sondern auch die Mitarbeitergesundheit. Diese Wirkung ist betriebswirtschaftlich kaum aufzuwiegen in einer Zeit, in der Pflegekräfte schwer zu gewinnen sind oder sie den Arbeitgebern weglaufen.“

Projekt wird durch Innovationsfonds gefördert 

Das gesamte Projekt, zu dem jetzt noch zwölf Pflegeheime hinzugekommen sind, heißt „SGB Reha“ und wird über vier Jahre aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert. Die Konsortialführung des Projekts „SGB Reha“ liegt bei der AOK Rheinland/Hamburg. Konsortialpartner sind:

  • die Universität Potsdam (Lehrstuhl der Sozial- und Präventivmedizin)
  • die Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (Institute für Sozialmedizin und Epidemiologie sowie für Biometrie und Registerforschung)
  • die Deutsche Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie (DAGPP)
  • die Evangelische Altenhilfe Mülheim an der Ruhr gGmbH mit den Häusern Ruhrgarten und Ruhrblick. „SGB Reha“

Diese Pflegeheime schließen sich „SGB Reha“ an

Diese Pflegeheime schließen sich „SGB Reha“ an

  • Aachen: Deutscher Orden, Haus St. Raphael
  • Bonn: Cellitinnen-Seniorenhaus Maria Einsiedeln
  • Düren: Cellitinnen-Seniorenhaus St. Ritastift
  • Essen: Karl-Heinz-Balke-Haus
  • Hamburg: Wohn-Pflegeeinrichtung im Albertinen Haus – Zentrum für Geriatrie und Gerontologie
  • Hamburg: Hospital zum Heiligen Geist mit Oberalter Stift
  • Hamburg: Residenz am Wiesenkamp
  • Hilden: Seniorendienste Stadt Hilden gGmbH, Seniorenzentrum Erikaweg
  • Krefeld: Städt. Seniorenheime Krefeld gGmbH, Seniorenheim Linn
  • Krefeld: Städt. Seniorenheime Krefeld gGmbH, Cornelius-de-Greiff-Stift
  • Rösrath: Alten- und Pflegeheim Wöllner-Stift gGmbH
  • Wadersloh-Diestedde: Seniorenheim Haus Maria Regina

 Autorinnen: kig/lin

 

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