Kammerauflösungen sind absolut ungewöhnlich. Noch nie ist in Deutschland eine Ärztekammer, eine Anwaltskammer oder Handwerkskammer aufgelöst worden. Nach 1949 wurde lediglich in Hessen die Kursmaklerkammer abgeschafft (wegen der Privatisierung der Frankfurter Börse, mit der sich zugleich das Berufsrecht änderte). Doch in diesem Jahr müssen gleich zwei Pflegekammern ihren Betrieb einstellen, weil die Landesparlamente in Schleswig-Holstein und Niedersachsen es so am 21. Mai und 28. April entschieden haben.
Doch warum überhaupt haben die Abgeordneten über das Fortbestehen der Pflegekammern abgestimmt? Vorausgegangen waren in beiden Bundesländern Mitgliederbefragungen, von denen die Landesregierungen das Fortbestehen der Kammern abhängig machten. Beide Befragungen sind für die Pflegekammern schlecht ausgegangen – in Niedersachsen bei sehr geringer Wahlbeteiligung, in Schleswig-Holstein bei hoher Wahlbeteiligung von 75 Prozent mit einer extremen Contra-Quote von 92 Prozent.
Flache und undifferenzierte Umfrage
Dass die Landesregierungen den Fortbestand der Pflegekammern von einer Mitgliederbefragung abhängig machen, hat der Rechtswissenschaftler Winfried Kluth als populistisch und wenig demokratisch kritisiert. Kammerbefürworter störten sich auch an den Umfrage-Unterlagen: fehlende einführende Information über die Aufgaben der Kammer, zu wenige differenzierte (und vielleicht auch zu suggestive) Fragen und Antworten zum Ankreuzen. So enthielt der Fragebogen in Schleswig-Holstein nur zwei Aussagen, von denen eine angekreuzt werden konnte: „Die Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein wird aufgelöst.“ Und: „Die Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein wird unter Beibehaltung von Pflichtmitgliedschaften und Pflichtbeiträgen fortgeführt. Die Beiträge müssen für die Finanzierung auskömmlich sein.“
Aber selbst wenn man in Umfragen – mögen sie noch so krude sein –, ein geeignetes Instrument sieht, um über den Fortbestand der Pflegekammern zu entscheiden: Die Landesregierungen scheinen völlig auszublenden, dass mächtige Organisationen – vor allem Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaft Verdi – in einem nicht mehr anständigen Ausmaß Stimmung gegen die Pflegekammern machten. Sie nutzen ihren Heimvorteil voll aus: So hat ein Arbeitgeberverband in Niedersachsen in einem Rundschreiben beispielweise seine Mitglieder (die privaten Heimbetreiber und Pflegedienste) darauf aufmerksam gemacht, dass keine Pflicht bestehe, Kammervertretern für Info-Veranstaltungen Eintritt zu gewähren. Berliner Kammer-Aktivisten berichten auch von privaten Arbeitgebern, die versuchten, ihren Mitarbeitern die Teilnahme an Info-Veranstaltungen zu verbieten.
Ein Verdi-Flyer voller Fake-News
Auch Verdi versucht über die Betriebsräte immer wieder Einfluss zu nehmen – oft durch Fehlinformation: So warnen die Arbeitnehmervertreter in manchen Häusern die Belegschaft vor Beitragssummen in Höhe von 15 Euro. In einem Kammer-Flyer von Verdi finden sich weitere Fake News: Da ist davon die Rede, dass es Pflichtfort- und Weiterbildungen geben wird, die Mitglieder in ihrer Freizeit absolvieren und selbst bezahlen müssen. So würden zusätzliche Kosten von 500 Euro entstehen – neben den Mitgliedsbeiträgen, die über die nächsten Jahre noch deutlich steigen würden, weil die hauptamtlich Beschäftigten „sicher auch mehr verdienen werden als eine Pflegekraft“.
Neben den Arbeitgeberverbänden und Verdi gibt es Protestgruppen, die ihre Arbeit als „Widerstand“ bezeichnen und mit den Gewerkschaften kooperieren. So heißt es bei kammergegner.de in Schleswig-Holstein: Eine kleine Abordnung der Kammergegner habe im April 2019 „ihre Aufwartung auf dem Arbeitnehmerempfang der SPD in Kiel“ gemacht und „dort für die Zukunft wertvolle Kontakte zu der AfA (Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen) und dem DGB“ geknüpft. Der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund, ist die größte Dachorganisation von Einzelgewerkschaften in Deutschland (darunter auch Verdi).
Vielleicht sollten Pflegekammern schärfer kontern
Es überrascht, dass die Fraktionen in ihren Stellungnahmen zum Parlamentsbeschluss in Kiel auf diese geballte Agitation, die das Ergebnis der Mitgliederumfragen stark beeinflusst haben dürfte, kaum eingegangen sind. Birte Pauls von der SPD-Fraktion spricht von Widerstand, der sich auf privater Arbeitgeberseite und Verdi formiert hätte. Passender wäre es, von perfider Einflussnahme zu sprechen. Vielleicht ist es das, woran es den Kammerbefürwortern mangelt: ein Funken Aggressivität, die Bereitschaft, scharf zu kontern, und die Interessen ihrer Gegner beim Namen zu nennen.
Doch Kammervertreter und -befürworter werden wachsam. In Nordrhein-Westfalen, wo gerade die größte Pflegekammer Deutschlands entsteht mit voraussichtlich 200.000 Mitgliedern, hält Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) ein waches Auge auf die Kammergegner. So sagte er im Interview mit pflegen-online: „Wenn die Pflegekammer beispielsweise als erstes eine Berufsordnung verabschiedet, in der Pflegekräfte zu regelmäßigen Fortbildungen verpflichtet werden, müsste diese Verpflichtung vernünftig formuliert sein. Denn als Arbeitnehmer würde ich mich natürlich fragen, ob ich meine Fortbildungen etwa selber bezahlen muss oder wie Arbeitgeber mit ins Spiel gebracht werden.“ Sandra Postel, Vorsitzende des Errichtungsausschusses in NRW, berichtet außerdem über einen wöchentlichen ‚Kammerdialog‘ mit Kammergegnern, der unter dem Motto „Zuhören, Verstehen, Akzeptieren“ stattfindet.
In Baden-Württemberg soll sich ebenfalls eine Pflegekammer gründen, so steht es im aktuellen Koalitionsvertrag der Schwarz-Grünen Regierung. Auch wenn Grüne durchgehend Pflegkammer-Befürworter sind (in Schleswig-Holstein unterlagen sie dem Fraktionszwang) und die CDU meistens Befürworter ist (prominentestes Beispiel ist Jens Spahn): Das Ja zur Pflegekammer im Koalitionsvertrag ist bemerkenswert. Denn Landesregierungen, die sich nach den desaströsen Entwicklungen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu Pflegekammern bekennen, werden mit eiserner Strategie ans Projekt Pflegekammer rangehen. Sie werden nichts riskieren und sich genau überlegen, wie sie mit den Widersachern umgehen. Das könnte das Ende von Populismus und Fake News in Sachen Pflegekammern bedeuten.
Autorin: Kirsten Gaede