Als Stephanie Kusterer von Frankreich nach Deutschland wechselte, war sie von der Arbeit bald enttäuscht: „Außer Essenreichen, Medikamente verteilen und bei der Körperpflege unterstützen, durfte ich nicht viel machen“, sagt sie. Selbst beim Verbandwechsel sei immer ein Arzt dabei gewesen. Kusterer wechselte von der Normalstation in die Anästhesie und war während ihrer Fachweiterbildung auch auf Intensivstation. „Hier geben die Ärzte mehr Verantwortung ab – aber eher unfreiwillig, weil sie keine Zeit haben“, sagt die 31-Jährige. Für die Pflegenden sei das problematisch, weil für diese Aufgaben oft der rechtliche Rahmen fehle. „Wenn etwas schieflaufen sollte, sind wir dran. Denn offiziell dürften wir diese Aufgaben gar nicht übernehmen.“
In Frankreich sind pflegerische Aufgaben gesetzlich geregelt
Stephanie Kusterer hat in Lyon Pflege studiert – in Frankreich geht das seit 2009 nur über ein Studium. Ihr Vater ist Engländer, ihre Mutter Französin, sie selbst ist in Frankreich aufgewachsen. Nach ihrem Studium war sie zunächst eine Weile in der Gerontopsychiatrie tätig und hat dann in einem Entwicklungsprojekt mitgearbeitet – auf einem Schiff, das in Afrika, Asien und Lateinamerika unterwegs ist. Dort hat sie ihren Mann kennengelernt, einen Deutschen, und ist mit ihm später nach Mosbach in Baden-Württemberg gegangen, um hier zu leben und zu arbeiten.
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In der beruflichen Pflege läuft in Deutschland jedoch vieles anders. „In Frankreich sind die pflegerischen Aufgaben gesetzlich sehr präzise geregelt. Wir dürfen Zugänge legen, Blut entnehmen, Erythrozytenkonzentrate verabreichen, Blasenkatheter legen, Wunden eigenständig versorgen und vieles mehr“, sagt Kusterer.
Pflegekräfte sind viel stärker an Medikation beteiligt
Auch bei der Medikation seien die Pflegenden viel stärker eingebunden. „Verschrieben werden die Medikamente zwar von den Ärzten, aber oft handelt es sich um Bedarfsmedikationen, die wir eigenständig anpassen, abhängig vom Zustand des Patienten.“ Auch obliege der Pflege die letzte Kontrollfunktion. „Gibt es Unverträglichkeiten zwischen zwei Medikamenten und die Ärzte und Apotheker haben es übersehen, ist es unsere Aufgabe, darauf hinzuweisen“, betont Kusterer. „Wir sind die letzte Instanz, die das prüfen kann. Wir müssen die Medikamente, die wir verabreichen, also wirklich gut kennen. Wir wissen, wenn etwas passiert, sind wir genauso beteiligt wie die anderen Berufsgruppen.“
Mehr als 100 gesetzlich geregelte Vorbehaltsaufgaben
In Frankreich sind die Aufgaben einer Pflegefachkraft im Gesetzbuch über das öffentliche Gesundheitswesen geregelt. In mehreren Kapiteln sind hier mehr als 100 Aufgaben definiert, die nur qualifizierte Pflegefachkräfte übernehmen dürfen. Über manche Tätigkeiten können sie eigenständig entscheiden und sie dann auch ausführen; für andere Tätigkeiten brauchen sie eine ärztliche Anordnung, dazu gehören zum Beispiel:
- Versorgung, Spülung und Überwachung einer Wunde, einer Fistel oder eines Stomas
- einfache Aufzeichnungen von EKG, EEG und evozierten Potenzialen (Test der Leitfähigkeit von Nervenbahnen)
- Anschließen, Überwachen und Abtrennen einer Nieren- oder Peritonealdialyse oder eines Plasmaaustauschkreislaufs
- Entfernen von zentralen Kathetern und intrathekalen Kathetern (Katheter im Rückenmarksraum)
- Aderlass und Blutentnahmen und vieles mehr
Manche dieser Tätigkeiten führen Pflegefachkräfte auch in Deutschland aus. Aber es ist eben nicht klar geregelt, dass sie dies auch dürfen. Viele beklagen, dass sie sich in einem Graubereich bewegen.
Pflegefachkräfte dürfen ohne ärztliche Anordnung impfen
In Frankreich sind Pflegende außerdem berechtigt, insgesamt 15 Impfungen zu verabreichen, etwa gegen Tollwut, Meningokokken oder saisonale Grippe – und dies ohne vorherige ärztliche Anordnung. Sie sind ebenso verantwortlich für die Dokumentation und Information der Impfung an den behandelnden Arzt.
Auch Aufgaben von fachweitergebildeten Pflegefachpersonen sind klar geregelt. Pflegende, die über ein staatliches Diplom für den OP-Bereich verfügen, sind etwa berechtigt, in Anwesenheit des Chirurgen bei der Freilegung, der Blutstillung und der Absaugung des OP-Gebiets mitzuwirken.
Ärzte in Frankreich respektieren Pflegekräfte viel mehr
Stephanie Kusterer sieht die Vorbehaltsaufgaben als großen Vorteil für die beruflich Pflegenden: „Es ist klar geregelt, was wir dürfen und können. Auch ist definiert: Was sind die Aufgaben der Pflegenden, was die Aufgaben der Ärzte?“ Das helfe auch, die Arbeit in den Abteilungen besser zu organisieren. Mit den festgelegten Kompetenzen gehe mehr Verantwortung, aber auch mehr Anerkennung einher – gesellschaftlich und von anderen Berufsgruppen. „Die Ärzte in Frankreich erkennen unsere Expertise an und vertrauen auf unsere Kompetenz“, sagt Kusterer. Das erlebe sie in Deutschland anders.
Ein Unterschied zu Deutschland sei, dass in Frankreich in den Kliniken viele zweijährig qualifizierte Pflegehilfskräfte eingesetzt seien. „Sie unterstützen bei der Körperpflege, begleiten bei Toilettengängen oder beim Essenanreichen“, erzählt Kusterer. Die Pflegefachkraft delegiere diese Aufgaben, bleibe aber verantwortlich. Dadurch könne viel Zeit gespart werden, die sich wiederum für andere Tätigkeiten nutzen lasse.
Alle Pflegekräfte in Frankreich sind Mitglied der Pflegekammer
Außerdem gebe es in Frankreich eine Kammer, in der eine Mitgliedschaft seit 2015 verpflichtend ist – zuvor war diese freiwillig. „Die Kammer hat sehr viel Gewicht in der Politik und verleiht den Pflegenden eine Stimme“, sagt Kusterer. Sie bringe zum Beispiel neue pflegebezogene Gesetze auf den Weg, die die Situation der Pflegenden verbessern.
Was leisten die deutschen Vorbehaltsaufgaben in der Pflege?
In Deutschland gibt es mit dem 2020 in Kraft getretenen Pflegeberufegesetz (PflBG) erstmals pflegerische Vorbehaltsaufgaben. Sie umfassen jedoch keine präzisen Tätigkeiten, sondern beziehen sich auf:
- die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs
- die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses
- die Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege
Diese Aufgaben dürfen nur ausgebildete Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (so heißen die Absolventen der neuen generalistischen Ausbildung, um die es im Pflegeberufegesetz geht) übernehmen. Sie dürfen die Vorbehaltsaufgaben nicht delegieren, auch der Arbeitgeber darf sie nicht an andere Personen übertragen. Die Vorbehaltsaufgaben dienen dem Schutz der Patienten und Bewohner. Sie können darüber hinaus das pflegerische Selbstverständnis und die gesellschaftliche Anerkennung der Pflege stärken – auch wenn dies nicht die vorrangige Intention ist.
Stephanie Kusterer sieht die pflegerischen Vorbehaltsaufgaben in Deutschland „als ersten Schritt“, sie müssten aber noch weiterentwickelt werden. „Es fehlen Tätigkeiten, die klar definieren, was Pflegende machen dürfen“, meint sie. Ansonsten sei der Nutzen zu gering, um die Expertise der Pflegenden deutlich zu machen und die gesellschaftliche Anerkennung des Pflegeberufs zu stärken.
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„In Frankreich habe ich viel mehr Anerkennung erfahren“
Ein Stolperstein auf diesem Weg sei vor allem der Personalmangel in der Pflege: „Wir sind nicht genügend Leute, die Pflegenden sind frustriert und wollen keine Verantwortung übernehmen“, sagt Kusterer. Denn: Können die bestehenden Aufgaben nicht delegiert werden, kommen die Vorbehaltsaufgaben zusätzlich zum Arbeitspensum hinzu. Das sei nicht zu leisten. „In meinen Augen braucht es eine große Systemänderung, bevor man umfängliche Vorbehaltsaufgaben umsetzen kann. Es braucht eine langfristige Perspektive, was Pflege leisten kann und soll.“
Stephanie Kusterer hat sich mittlerweile an die deutschen Verhältnisse gewöhnt: „Manchmal ist es noch frustrierend, auch wenn nicht alles schlecht in Deutschland ist.“ Dennoch vermisst sie die pflegerische Kompetenz, die in ihrem Heimatland selbstverständlich für sie war: „In Frankreich habe ich viel mehr Anerkennung erfahren.“
Autorin: Brigitte Teigeler