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Mit Einführung der Pflegeversicherung Mitte der 90er wurde es möglich, dass private Investoren Pflegeheime kaufen.  

Pflege und Politik

Ziehen sich die Investoren aus der Altenpflege zurück?

Nach der Finanzkrise 2008 haben internationale Investoren die deutsche Pflegebranche entdeckt. Doch seit Kurzem sind sie zurückhaltend. Wird das so bleiben? Und: Warum durften sie überhaupt in die Pflege drängen? 

Noch vor einem Jahr sah die Zukunft rosig aus: Anfang 2022 pries die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) in einer umfassenden Analyse goldene Zeiten für Investoren, die ihr Geld im deutschen Pflegebereich vermehren wollten. Investoren erwarteten weiterhin steigende Preise für Seniorenimmobilien in Deutschland heißt es: „Die befragten Investoren sehen für alle drei Arten von Seniorenimmobilien (Pflegeheime, betreutes Wohnen und gemischt genutzte Objekte) steigende Preise mit Spitzen-Vervielfältigern über dem 22-fachen des Jahres-Rohertrags.“

PwC und BNP Paribas prophezeiten goldene Zeiten  

PwC hält ungebrochen an der optimistischen Tonlage fest: „Besonders geschätzte Merkmale des Marktes sind die Unabhängigkeit von der konjunkturellen Entwicklung und die Gewährleistung stabiler Cashflows. Zudem stabilisiert sich der Markt zunehmend durch eine fortschreitende Professionalisierung auf der Betreiberseite. In der Folge zeigen die Investoren mehr Vertrauen in den Markt und dies resultiert wiederum in einer steigenden Nachfrage.“

Nach einer Analyse der BNP Paribas Real Estate wurden allein 2022 im deutschen Gesundheitsmarkt 3,3 Milliarden Euro angelegt – 1,4 Milliarden flossen dabei allein in Pflegeheime und 321 Millionen in Betreutes Wohnen.

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Über 50 Prozent der Pflegeheime haben private Träger

Kein Wunder, dass inzwischen knapp die Hälfte aller stationären Pflegeeinrichtungen in privater Hand ist. Wobei einige Ketten von ausländischen Investoren den Markt dominieren: Mit 250 Pflegeheimen und über 27.000 Pflegeplätzen ist die von französischen Investoren betriebene Korian Gruppe die Nummer Eins in Deutschland, gefolgt von der schwedischen Alloheim Senioren-Residenzen SE mit 239 Einrichtungen und 23.400 Pflegeplätzen. Erst auf Platz sieben findet sich mit den Johannitern (95 Heime, knapp 8.000 Plätze) der erste freigemeinnützige Träger.

Doch dieses Jahr sind die Investitionen in die Gesundheitsbranche massiv zurückgegangen. Das ist die Folge der unsicheren Lage: Gestiegene Zinsen, höhere Löhne und die immens gewachsenen Energiekosten sind für die privaten Investoren derzeit unkalkulierbar. Nach den Daten des Immobiliendienstleisters BNP Paribas sind im 1. Halbjahr 2023 daher nur noch 660 Millionen Euro investiert worden. 

Insolvente Pflegeheime verschrecken Investoren

BNP schreibt: „Einige große Insolvenzen von namhaften Betreibern setzen aktuell dem Healthcare-Investmentmarkt zu und führen zu zunehmender Zurückhaltung seitens risikoaverser Investoren. Wo jahrelang kein oder kaum Betreiberrisiken wahrgenommen wurden, wächst nun das Augenmerk auf die Stabilität eines Betreibers. Die weitere Entwicklung auf Betreiberseite wird daher genauestens beobachtet und einen großen Einfluss auf das weitere Transaktionsgeschehen haben.“

Die grundsätzliche Diskussion aber, ob Gesundheit nicht vor allem eine Gemeinwohl-Aufgabe ist, wird nicht enden.  Eine inzwischen lange Liste von Skandalen in privat betriebenen Pflegeheimen, immer wieder auch  begleitet von gerichtlichen Auseinandersetzungen, belegt oftmals die Vorwürfe, dass Investoren allein die Gewinnmaximierung im Blick haben. Ein traurig-prominentes Beispiel sind die katastrophalen Verhältnisse im bayrischen Pflegeheim in Schliersee der italienischen Betreiberkette Sereni Orizzonti im Mai 2020, sie waren bundesweit in den Schlagzeilen.

Skandale schädigen den Ruf der privaten Pflegeheimketten   

 In der Folge ermittelte die Staatsanwaltschaft München gegen Mitarbeiterinnen in dem Pflegeheim in Schliersee wegen 17-facher Tötung und 88-facher Körperverletzung. Geschlossen wurde das Heim trotzdem erst Ende 2021. Ein Prozess gegen die Verantwortlichen ist bis heute nicht eröffnet. „Leider kann derzeit noch keine zeitliche Prognose abgegeben werden, wann mit einem Verfahrensabschluss zu rechnen ist und ob dieser zu einer Anklageerhebung (und somit zu einem Prozess) führt“, so die Pressestelle der Staatsanwaltschaft München Anfang Oktober auf Nachfrage von pflegen-online.

Und immer wieder war es das RTL-„Team Wallraff“, das zu Missständen in Pflegeeinrichtungen verschiedener privater Anbieter undercover recherchierte. Das sich wiederholende Ergebnis: Verängstigte, einsame und vernachlässigte Heimbewohner, die unter teils fragwürdigen Hygienebedingungen litten, überlastetes Pflegepersonal und Führungskräfte, die den Kostendruck der Konzerne beklagten.

Die Regierung Kohl öffnete die Türen für private Träger 

Warum es immer wieder zu Missständen in privaten Heimen kommt, hat ein ehemaliger Manager einer privaten Pflegeheim-Kette im bayerischen Fernsehen so zusammengefasst: „Wenn du Gewinne machen willst, musst du die Kosten reduzieren. Das heißt: weniger Betreuung. Oder du betreust mit nicht qualifizierten Hilfskräften. Du bietest weniger Essen an. Du wechselst die Bettwäsche seltener.“

Es war die Politik, die vor 30 Jahren den privaten Kapitalanlegern die Tore zum Pflegemarkt weit geöffnet hat. Denn bis in die 90-ger Jahre war die Altenpflege traditionell eine karitative und öffentliche Aufgabe für Kirchen und Kommunen. Als der Bedarf an Pflegeplätzen in der alternden Gesellschaft stark wuchs, und die Politik dem Glauben folgte, dass private Unternehmen öffentliche Aufgaben effizienter erledigen könnten als der Staat oder gemeinnützige Organisationen, änderten sich die Rahmenbedingungen. In Deutschland gab die Regierung von Kanzler Kohl im Jahr 1995 mit der Einführung der Pflegeversicherung den Startschuss. Das Gesetz erlaubte, dass private genauso wie gemeinnützige Heimbetreiber Versorgungsverträge mit den Pflegekassen abschließen durften. Die Hoffnung war, dass mittels privater Investitionen der Mangel an Pflegeheimen schneller überwunden werden konnte.

Weil Prüfer fehlen: dürftige Kontrolle der Heime

Was man damals aber nur ansatzweise formulierte und installierte war ein Kontrollsystem, um die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu sichern. Zwar gibt es umfassende gesetzliche Vorgaben für das Betreiben von Pflegeheimen: Kommunale Heimaufsichten sollen sie kontrollieren sollen. Doch das steht in vielen Bundesländern nur auf dem Papier. Denn den wenigen Prüferinnen und Prüfern fehlt dafür häufig die Zeit. Nur mit „Mühe und Not“ sei die Kontrolle aller Heime gelungen, sagt eine frühere Prüferin der Heimaufsicht in Bayern. Stellen die Aufseher Mängel fest, bekommen die Heime die Auflage, diese zu beseitigen. Aber längst nicht immer wird das auch kontrolliert. Das habe sie „oft nicht geschafft“, sagt die bayerische Prüferin. „Wenn wir ein Jahr später wiederkamen, war oft alles beim Alten.“

Jens Spahn und Karl Lauterbach kritisieren private Heimträger

Die vielen Skandale haben bei Politikerinnen und Politikern  inzwischen zu einem Umdenken geführt. So schrieb der ehemalige CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn schon 2018 in einem Gastbeitrag für die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“, dass „ein kapitalmarktgetriebenes Fokussieren auf zweistellige Renditeerwartungen“ nicht angemessen sei. Jens Spahn stellte fest, dass sehr hohe Gewinne „fast nur durch vorsätzliches Absenken der Versorgungsqualität zustande kommen“ könnten.

Der derzeitige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) stuft die Privatisierung von Pflegeheimen als „Fehler“ ein. In einem Interview mit dem Journalisten Günter Wallraff für das RTL-Format „Team Wallraff – Jetzt erst recht!“ räumte er ein, dass er es „rückblickend richtig gefunden hätte, wenn die Pflege einfach eine kommunale Aufgabe geblieben wäre“.

Frank Schulz-Nieswandt: „Es funktioniert nicht mit privaten Trägern“ 

Die negativen Entwicklungen hatten Sozio-Ökonomen von Anfang an befürchtet. „Pflege gehört zur Daseinsvorsorge und wird durch Artikel 1 des Grundgesetzes, nämlich dass die Würde des Menschen unantastbar ist, geschützt“, sagt Frank Schulz-Nieswandt, Professor für Sozialpolitik an der Universität zu Köln. „Und diese Würde kann man nicht beliebigen gewinnorientierten Märkten überlassen. Der Staat hat sich zurückgezogen. Und was wir jetzt sehen ist: Es funktioniert nicht.“

Trotzdem sagt Frank Schulz-Nieswandt: „Das der Staat nicht alles selber machen kann, ist klar.“ Der Kölner Professor plädiert weiterhin für einen „Trägerpluralismus“. Denn es gibt „gute Private und schlechte Private. Und es gibt gute freie Träger und schlechte. Private aber haben immer das Problem, das sie möglichst große Gewinne machen müssen. Die Aktionäre, die bei diesen Kapitalgesellschaften investieren, erwarten Dividenden.“

„Wir brauchen für Pflegeheime eine Missbrauchsaufsicht“

Dass auch gemeinnützige Unternehmen „Überschüsse“ erwirtschaften müssen, bestreitet Professor Schulz-Nieswandt nicht. „Die müssen sie auch machen, sonst können sie ja nicht investieren. Aber sie sind von ihrem Hintergrund fokussiert auf die Menschen und dadurch kulturell besser aufgestellt.“

Damit der „Trägerpluralismus“ funktioniere, müsse die Politik gemeinsam mit den Kranken- und Pflegekassen klar definieren, was für eine „Versorgungslandschaft wir haben wollen. Es geht nicht darum zu regulieren, sondern sozial zu planen.“ Und das umfassend, denn „ein Pflegeheim ist kein Akut-Krankenhaus für ältere Menschen“.

Um menschenwürdige Pflege zu garantieren, muss „der Staat klarer definieren, welche Qualität er haben will.“ Und das dann auch kontrollieren. „Wir brauchen eine Missbrauchsaufsicht. Zurzeit wird nur geschaut, ob die Rahmenbedingungen, die Strukturen stimmen. Das reicht nicht.“

Hermann Brandenburg: international operierende Ketten stoppen 

So oder so: Zurückdrehen lässt sich die Entwicklung wohl kaum mehr wie auch der Gesundheitsminister in dem RTL-Interview zugeben musste: „Die privaten Investoren können nicht einfach enteignet werden. Das ist rechtlich so nicht machbar.“

Aber man könne ihnen Grenzen ziehen, sagt Professor Dr. Hermann Brandenburg von der PTH Vallendar. „Einzelne private Kleinstbetriebe kann man zulassen, aber den Markt international operierenden Ketten zu überantworten, war ein politischer Fehler. Der muss korrigiert werden. Ich denke, dass in der Versorgung alter Menschen vor allem die öffentliche Hand insgesamt im Vordergrund stehen sollte.“

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Autor: Hans-Georg Sausse

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