Die Zahl der Auszubildenden in der Pflege ist über die vergangenen Jahre besonders in der Altenpflege stark gestiegen: Vom Schuljahr 2009/2010 bis zum Schuljahr 2019/2020 war in der eigenständigen Ausbildung zur Altenpflegefachkraft allein ein Anstieg um 62 Prozent zu verzeichnen. Selbst 2021 während der Pandemie und kurz nach Zusammenlegung der drei Pflegeausbildungen zu einer generalistischen Ausbildung, ist die Zahl der Pflegeschüler noch leicht angestiegen. Doch 2022 ist sie nun erstmals nach langer Zeit gesunken, es gab 4.100 weniger neue Ausbildungsverträge in der Pflege, die Zahl sank auf 52.100. Jetzt versuchen Pflegeverbände und der Trägerverband bpa (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) den Rückgang zu interpretieren. Die verschiedenen Erklärungsversuche und Lösungsvorschläge im Überblick.
Frage 1: Sind der Rückgang bei den Ausbildenden wirklich so dramatisch?
Aus statistischer Sicht ist der Rückgang der Ausbildungszahlen nicht beunruhigend. Bildungsexperten betrachten die Entwicklung in einem Zeithorizont von zehn bis 15 Jahren und stellen einen bemerkenswerten Zuwachs an Auszubildenden gerade in der Altenpflege fest. Seit fünf bis sechs Jahren hat sich der Zuwachs eingependelt, er ist nun recht konstant. Der Rückgang 2022 lässt sich als kleiner Dämpfer, als normale Schwankung in einer grundsätzlich konstanten Entwicklung betrachten.
Der Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe unterstreicht deshalb: Trotz allem ist der Pflegeberuf der am häufigsten gewählte Ausbildungsberuf. Unkenrufe wie „Keiner will mehr in der Pflege arbeiten!“ sind definitiv fehl am Platze.
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Das Problem ist aber: Es werden wegen der stark wachsenden Zahlen von Pflegebedürftigen und multimorbiden Patienten in den nächsten Jahrzehnten künftig noch viel mehr Pflegekräfte gebraucht. 2030 müssten eigentlich vier Mal so viele Auszubildende in den Pflegeberuf starten als bisher, schätzen Pflegebildungs-Experten. Doch wie soll das klappen, wenn die Zahl der Schulabgänger nicht deutlich steigen wird? Oder ist damit zu rechnen, dass künftig der Anteil der Schulabgänger, die sich für den Pflegeberuf interessieren, zunehmen wird (dass sich also weniger Mediendesigner oder Kauffrau werden möchten)?
Frage 2: Was sind die Gründe für den Auszubildenden-Schwund?
Nicht nur im Pflegeberuf sind die Ausbildungszahlen zurückgegangen. „Der Rückgang spiegelt eins zu eins den allgemeinen Trend in Deutschlands Ausbildungsberufen wider“, sagt Christine Vogler, Präsidentin des Deutschen Pflegerats (DPR). Das hängt in diesem Fall einmal nicht in erster Linie mit der demografischen Entwicklung zusammen, sondern mit der bildungspolitischen Situation in Deutschland: In der Altersgruppe der 20- bis 34-Jährigen haben laut dem focus-online immer weniger einen Schulabschluss: 2020 waren noch 15,5 Prozent von ihnen ohne Schulabschluss – ein hoher Anteil, der 2022 noch einmal im 1,5 Prozentpunkte auf 17 Prozent gestiegen ist. Die Folge: 18 Prozent der Männer zwischen 20 und 34 haben keinerlei Ausbildung beendet, bei den Frauen waren es 15 Prozent.
Auch wenn der Rückgang der Auszubildenden-Zahl ein allgemeiner Trend ist, sehen Pflege- und Trägerverbände auch spezielle Gründe für den Rückgang beim Pflegeberuf.
Frage 3: Liegt der Pflegeschüler-Rückgang an der Generalistik?
Der Trägerverband bpa (Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste) macht vor allem die generalistische Pflege-Ausbildung für den Pflegeschüler-Schwund verantwortlich. Der Rückgang sei hausgemacht und von der Politik zu verantworten. „Die generalistische Pflegeausbildung ist kein Erfolgsmodell – sie verstärkt ganz offensichtlich den Personalmangel in der Langzeitpflege. Bei ehrlicher Bewertung kann sie nicht das Modell für die großen Herausforderungen in der pflegerischen Versorgung sein“, sagt bpa-Präsident Bernd Meurer. Der bpa hat die Zusammenlegung der drei Pflegeberufe (Krankenpflege, Altenpflege, Kinderkrankenpflege) von Anfang an kritisiert – der Deutsche Pflegerat hingegen hat sich für die Generalistik ausgesprochen (wenn auch wenige Verbände in dem Dachverband dagegen waren, wie der Berufsverband Kinderkrankenpflege Deutschland).
bpa: Altenpflege-Interessierte fühlen sich nicht richtig „abgeholt“ in der Generalistik
Warum soll die Generalistik der Altenpflege schaden? Ein zentrales Argument des bpa lautet: Potenzielle Pflegeschüler mit Altenpflege-Neigung „könnten sich von der generalistischen Ausbildung nicht abgeholt fühlen“, wie bpa-Geschäftsführer Norbert Grote es auf Anfrage formuliert. Sie würden der Altenpflege fern bleiben, weil es keine Alternative gebe. Norbert Grote glaubt, dass infolge der Generalistik ein enormes Potenzial an Altenpflege-Interessierten „versickert“.
Einwenden ließe sich gegen dieses Argument, dass es zwar Abbrecher-Quoten erklären könnte, nicht aber den Rückgang der Ausbildungszahlen. Schulabgänger mit Faible für Altenpflege studieren vermutlich nicht Lehrpläne, bevor sie sich für eine Ausbildung entscheiden. Sie wissen meistens nicht, dass sich die Inhalte durch die Generalistik geändert haben; in erster Linie entscheiden sie sich für die Ausbildung, um am Ende als examinierte Altenpflegerin oder Altenpfleger arbeiten zu können.
Ein weiteres Argument gegen die Generalistik, das aus der Altenpflege-Branche immer wieder zu hören ist, lautet: Auszubildende, die bei Altenpflege-Trägern beschäftigt sind, bekommen bei ihren Einsätzen im Krankenhaus Appetit auf den klinischen Betrieb – oder werden sogar abgeworben.
Frage 4: Liegt der Pflegeschüler-Rückgang an der schlechten Finanzierung?
In diesem Punkt sind sich der Trägerverband bpa und die Pflegeverbände einig: Die Schulen erhalten zu wenig finanzielle Unterstützung von den Ländern. Die Bundesländer beteiligten sich nicht ausreichend an den Investitionskosten, kritisiert der bpa. Außerdem, so Christine Vogler, seien sie verantwortlich für das „aktuell nicht ausreichende Lehrpersonal“.
Das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesfamilienministerium „müssen umgehend mit den Ländern für eine Absicherung und einen deutlichen Ausbau der Ausbildungskapazitäten sorgen“, fordert der bpa. Dazu gehörten auch ausreichend Studienplätze für Pflegepädagoginnen und -pädagogen. Der bpa sieht die Altenpflegeschulen eindeutig im Nachteil gegenüber den Schulen der Krankenhäuser – und zwar in verschiedener Hinsicht:
- Die Pflegeschulen der Krankenhäuser hätten ein besseres Lehrer-Schüler-Verhältnis, heißt es beim bpa.
- Die Pflegeschulen der Krankenhäuser seien besser finanziert: Von den Ländern werden die Investitionskosten der Kliniken finanziert (allerdings längst nicht immer zuverlässig, wie etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die DKG, seit vielen Jahren moniert). Betriebskosten (Miete etc.) durch die Krankenkassen – der bpa spricht hier von einem „Vollkaskosystem im Akutbereich“.
- Die Pflegeschulen der Altenpflege (fast immer in freier Trägerschaft) seien bei den Investitions- und Mietkosten auf die Länder als Finanzgeber angewiesen – eine echte Verpflichtung der Länder zur Zahlung gibt es aber nicht. „Es fehlen zum Beispiel in Teilen fehlende verbindliche oder auch befristete Regelungen der Länder, was wiederum für die Pflegeschulen die Finanzierung der Miet- und Investitionskosten als rein freiwillige Leistung (sprich Billigkeitsleistungen) der Länder nach Kassenlage sowie eine teils sehr unzureichende und damit ungleiche Finanzierungssituation bedeutet. Ein extremes Beispiel ist Nordrhein-Westfalen, wo in der Regel weniger als 20 Prozent der Mietkosten im Jahr vom Land finanziert werden. Die Folgen im Wettbewerb mit an Krankenhäusern angebundenen Pflegeschulen sind entsprechend. Ebenso werden Themen wie Planungssicherheit oder ein zusätzliches Engagement dieser Schulträger in Form von Schaffung (notwendiger) neuer Klassen und/oder Pflegeschulen außer Acht gelassen.“
Der Deutsche Pflegerat geht tatsächlich davon aus, dass bei besserer Ausstattung der Schulen mehr Bewerber die Pflege-Ausbildung hätten beginnen können. Abwegig ist das nicht, schließlich bedeutet ein Rückgang bei den Auszubildenden nicht notwendigerweise ein Rückgang bei den Bewerberinnen und Bewerbern (allerdings ist auch nicht jeder Bewerber geeignet).
Eine Aussage von bpa-Geschäftsführer Norbert Grote in einem Interview mit pflegen-online im November 2021 bestärkt die Sichtweise des DPR: „Ganz aktuell erleben wir, dass Herbstkurse nicht zustande kommen und abgesagt werden müssen – wegen Lehrkräftemangel, trotz voller Klassenstärke!“
Frage 5: Liegt der Rückgang an den geringen Entscheidungsmöglichkeiten?
Die Pflegeverbände sind sich einig: Pflegekräfte brauchen mehr Entscheidungsbefugnisse, damit der Beruf attraktiver wird. Dazu der DBfK: „Ohne grundsätzliche Reformen im Gesundheitswesen, die zu einer deutlichen Aufwertung des Berufs führen, wird sich die Situation weiter zuspitzen. In Deutschland wird die Relevanz pflegerischer Fachkompetenz im gesamten Gesundheitssystem noch immer verkannt und das rächt sich natürlich: Wer will denn einen Beruf lernen, der politisch und gesellschaftlich wie unwichtiges Beiwerk der Ärzteschaft behandelt wird?“
Frage 6: Liegt es am mangelnden Wohnraum?
Das wäre tatsächlich denkbar: Wenn eine Schulabgängerin eine Zusage für einen Ausbildungsplatz in einer entfernten Stadt bekommt, wird es meistens kompliziert: Sie muss vor Ort eine Wohnung oder ein Zimmer finden, vorab schon einmal für die Suche oder Besichtigung in die Stadt reisen. Als die meisten Krankenhäuser noch Schwesternwohnheime hatten (ja, so wurden sie früher genannt) war alles einfacher.
So erstaunt es nicht, dass Mitglieder des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP) über angehende Pflegeschüler berichten, die ihren Ausbildungsplatz nicht antreten können, weil sie keine „dauerhafte Bleibe“ gefunden haben.
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Frage 7: Wird es wieder mehr Pflegeschüler geben? Was muss passieren, damit die Zahlen wieder anziehen?
„Aufgrund des zunehmenden demografischen Ungleichgewichts, von immer weniger jungen und deutlicher mehr älteren Menschen, befinden wir uns bereits in einem Personalnotstand, der sich allein durch Ausbildungsinitiativen und die Anwerbung ausländischer Kolleginnen und Kollegen nicht beheben lässt“, sagt die DBfK-Präsidentin und Professorin Christel Bienstein. Etwas optimistischer ist Christine Vogler: Sie sagt, dass die Zahl der Schulabgänger in ein paar Jahren wieder steigen wird. „Wir brauchen nur auf die Gesamtzahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger der nächsten Jahre schauen und wissen: Es wird erst dann wieder besser werden, wenn sich die Schulabgänger-Zahlen erhöhen, und das wird erst ab 2027 soweit sein.“
Doch abwarten ist keine Option, da sind sich alle Verbände einig. Christel Bienstein meint, gerade in puncto „mehr Entscheidungskompetenz“ müssten Politiker das Ruder jetzt herumreißen, bevor keiner mehr da sei, der professionell pflegen könne.
Vera Lux: Folgen der Krankenhaus-Schließungen bedenken!
Die Pflegdirektorin der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorsitzende des Niedersächsischen Pflegerats macht noch auf ein ganz anderes Problem aufmerksam: In den nächsten Jahren, so sieht es die Klinikreform vor, werden mehr Krankenhäuser schließen. „Das wirkt sich zweifelsohne auf die Pflegeausbildung aus“, sagt Vera Lux. „Vor allem dann, wenn es zu unstrukturierten Krankenhausschließungen kommt. Weniger Krankenhäuser bedeuten auch weniger Ausbildungsplätze. Will man die Ausbildungsplätze in der Pflege sichern, muss seitens der Politik endlich gehandelt werden.“ Strukturelle Entscheidungen seien notwendig – auch um die Pflege in Deutschland auf das akademische Niveau der Europäischen Länder anzuheben.
Unkonventionelles Rezept gegen die Wohnungsnot von Auszubildenden
Ein sehr handfester Vorschlag kommt von der Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege: „Einrichtungen sollten ihren Auszubildenden freistehende Zimmer kostengünstig zur Verfügung stellen“, sagt Isabell Halletz. „Behörden, insbesondere Heimaufsicht, Gesundheits- und Sozialbehörden, sollten diese pragmatischen Ansätze unterstützen und die Umwidmung von Zimmern und Wohnbereichen flexibel und bedarfsgerecht ermöglichen. Das würde die Wohnungsnot für Pflege-Azubis und ausländische Pflegekräfte wirksam lindern und wäre ein dringend nötiger Lichtblick für die Pflegeausbildung.“
Autorin: Kirsten Gaede