Als Führungskraft und Organisationsberaterin hat Silke Boschert zahlreiche Pflegeeinrichtungen geplant und in die Praxis geführt. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf Wohngruppen – einem Modell, von dem sie sagt: „Für Menschen, die in ein Heim ziehen, ist es das Beste, was ihnen passieren kann. Und Pflegekräfte, die sich auf die Idee wirklich einlassen, wollen am Ende nur noch so arbeiten.“ Jetzt hat sie sogar ein Buch darüber geschrieben: Wohngruppen in der Altenpflege: Ein Baustein im Quartier
In allen von ihr konzipierten Häusern leben mehrere Wohngruppen – in einer Größe von jeweils acht bis 15 Bewohnern – zusammen. Jeder Bewohner verfügt über ein Einzelzimmer mit Bad, darüber hinaus hat jede Gruppe einen eigenen Wohn- und Küchenbereich. Im Interview erzählt Silke Boschert von ihren Erfahrungen und ermutigt dazu, Veränderungen auch im Kleinen anzufangen.
Pflegen-online: Frau Boschert, Sie fordern ein Umdenken in der stationären Altenpflege – weg von traditionellen, funktionalen Handlungsmustern, hin zu mehr Bedürfnisorientierung. Warum sollten Wohngruppen aus Ihrer Sicht hierbei das Modell der Wahl sein?
Silke Boschert: Die Pflege könnte in vielen Einrichtungen weit besser laufen, als es heute der Fall ist – besser für die Bewohner und besser für die Pflegekräfte. Die wichtigste Frage lautet doch: Wie möchte ich selbst im Alter leben? Und wie würde ich leben wollen, wenn ich in einer Einrichtung wäre? Allein daraus ergeben sich schon die richtigen Antworten. Wer tatsächlich in ein Pflegeheim geht – was sich im Grunde ja die wenigsten wünschen –, möchte dort doch wenigstens so eigenständig und sinnerfüllt wie möglich weiterleben. Und diesem Wunsch können Wohngruppen sicher eher gerecht werden als die traditionellen Modelle.
Inwiefern läuft es dort für Pflegekräfte besser als in anderen vollstationären Einrichtungen?
Wer verstanden hat, wie Wohngruppen funktionieren, kann sich meist gar kein anderes Arbeiten mehr vorstellen. Das hat sich in den vergangenen 20 Jahren, in denen ich selbst Einrichtungen geplant und umgesetzt habe, immer wieder gezeigt. Wenn Auszubildende mit dem Wohngruppenkonzept „groß werden“, wollen sie nie mehr in eine herkömmliche Einrichtung. Natürlich ist die Arbeit auch in einer Wohngruppe anstrengend – aber Pflegekräfte sehen dort jeden Tag die Früchte ihrer Arbeit; sie sehen, dass es den Bewohnern damit gut geht, und sie ihnen gerecht werden können.
Dazu braucht es aber nicht nur die baulichen Voraussetzungen, sondern vor allem eine andere Haltung und Abläufe, die sich tatsächlich an den Bewohnern ausrichten?
Vielerorts werden zwar die Raumkonzepte umgesetzt, die Pflege ist aber weiterhin standardmäßig organisiert, das Essen wird geliefert, verantwortlich ist die Stationsleitung – da stimmt schon die Sprache nicht. Dabei sind es die Pflegekräfte, die entscheidend dazu beitragen, dass in einer Wohngruppe ein gelebtes Miteinander entsteht.
Dies gelingt, wenn die Führung und die Pflegenden bereit sind, sich komplett auf die Bedürfnisse der Bewohner einzulassen – und das tagtäglich. Das heißt, ich komme morgens nicht zur Arbeit und folge einem festen Ablaufplan, sondern orientiere mich immer wieder neu an dem, was jeder Einzelne braucht – und was die Gruppe braucht. Das erfordert auch von der Leitung einen ständigen Austausch mit den Teams, um zu sehen, wo es Handlungsbedarf gibt.
Wie sieht das in der Praxis aus?
Im Idealfall gibt es einen Strukturplan, der den Pflegekräften – ähnlich wie im ambulanten Dienst – eine Tour vorgibt. Da steht zum Beispiel: Frau Müller, 8 Uhr, beim Aufstehen helfen. Dann muss ich aber schauen: Möchte Frau Müller denn heute wirklich um 8 Uhr aufstehen? Und wenn das nicht der Fall ist, lasse ich sie und helfe ihr später. Durch diese Haltung werden wir nicht nur den Bedürfnissen der Bewohner gerecht, wir reduzieren zugleich die Arbeitsverdichtung. Denn wenn wir über 24 Stunden hinweg pflegen, entzerrt sich alles. Das ist phänomenal. Innerhalb solcher Strukturen muss keine Pflegekraft morgens im Eiltempo zehn Bewohner versorgen.
Abends macht sich dieser Unterschied noch stärker bemerkbar. Denn in einer Wohngruppe gehen viele Bewohner erst sehr spät ins Bett. Sie sitzen noch zusammen, trinken vielleicht ein Bier oder einen Wein, unterhalten sich oder spielen etwas. Das ist gelebtes Miteinander – und falls jemand beispielsweise um Mitternacht noch eine Gulaschsuppe essen möchte, geht auch das. Wenn die Abläufe dagegen so sind, dass es um 17.30 Uhr Abendessen gibt und um 19 Uhr niemand mehr außerhalb seines Zimmers zu sehen ist – dann ist das keine gelebte Wohngruppe.
Funktionieren Wohngruppen unabhängig vom Grad der Pflegebedürftigkeit?
In einer Gruppe, in der 15 Menschen zusammenleben, sind ja nie alle gleich – aber jeder kann etwas. Ein Bewohner, der im Rollstuhl sitzt, mag vielleicht noch das Geschirr abtrocknen, ein anderer kann beim Kochen Tipps geben, der nächste den Tisch eindecken. In einer solchen Gemeinschaft erleben sich auch Menschen mit Demenz als sinnerfüllt und wertgeschätzt. Sie verhalten sich deshalb nur selten herausfordernd, es sind kaum Psychopharmaka nötig. Zum Konzept gehört auch, dass alles, was die Gruppe betrifft, gemeinsam thematisiert und besprochen werden sollte – genauso, wie man es zu Hause mit der Familie tut.
Wenn Einrichtungen nun sagen: Wir möchten uns verändern, das Miteinander in einer Wohngruppe stärker fördern oder das Konzept auch in der Quartiersarbeit verankern – wie können sie das angehen?
Jedes Haus kann im Kleinen anfangen, beispielsweise modellhaft mit einer Gruppe in einem Dreietagenhaus. Das ist auch mein wichtigster Tipp: sich einfach erst einmal auszuprobieren. Also die notwendigen Strukturen zu schaffen, eine Gemeinschaftsküche einzurichten, die Mitarbeiter zu schulen, einzuteilen, wer für die Küche, die Pflege, die Betreuung zuständig ist. Und dann: einfach mal machen und die einzelnen Schritte immer wieder reflektieren – was funktioniert gut, was funktioniert weniger gut und was sollten wir noch ändern.
Könnten sich Interessierte auch direkt an Sie wenden?
Wir brauchen jeden, der die Pflege hin zum Besseren verändern möchte und bereit ist, dafür aktiv zu werden. Fragen beantworte ich daher gern. Wer mich kontaktieren möchte, erreicht mich per E-Mail unter Silke.Boschert@pgw-og.de oder telefonisch unter 0781 475133.
Interview: lin
Über Silke Boschert
Die Vorständin beim Paul-Gerhardt-Werk e. V. arbeitet seit mehr als 30 Jahren in den unterschiedlichsten Feldern der Altenpflege, unter anderem als Einrichtungsleiterin, als Organisationsberaterin und Lehrbeauftragte, Coach und Supervisorin. Die 49-Jährige ist examinierte Pflegefachkraft und hat Management im Gesundheitswesen sowie Mehrdimensionale Organisationsberatung studiert. Für ihre Masterarbeit zum Thema „Gruppendynamik in Wohngruppen“ erhielt Silke Boschert 2012 den BKK-Innovationspreis für die Zukunft der Pflege. Die PGW-Vorständin ist Geschäftsführerin der Diakonie Mittelbaden gGmbH, einer hundertprozentigen PGW-Tochter.
Viele weitere Tipps und umfassende Hintergrundinformationen liefert Silke Boschert auch in ihrem Buch „Wohngruppen in der Altenpflege. Ein Baustein im Quartier. Praktische Ideen für Gestaltung und Organisation“ (Schlütersche, 2020).
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