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Pflegegeschichte

Woher kommt eigentlich die Personalnot in der Pflege?

Ist doch klar, so lautet eine beliebte Antwort: Die Pflegekräfte kehren ihrem Beruf den Rücken. Doch ganz so einfach ist es nicht. Ein Blick zurück auf 20 Jahre Pflege-Geschichte      

Ein Sonnabend im Juli, die Sonne geht unter, die Frau, Mitte 30, freut sich auf den Sonntag: Es soll mit Mann und Kindern zum Baden an den See gehen, das Auto ist schon gepackt. Da klingelt das Telefon – ob sie am nächsten Tag arbeiten könne, eine Kollegin sei krank geworden. – Wäre diese Frau Lehrerin, Gärtnerin, Sachbearbeiterin, Bibliothekarin oder Kunsttherapeutin: Sie würde gleich wieder auflegen, den Anruf für einen Scherz halten. Aber für viele Pflegefachpersonen ist eine Situation wie diese bittere Realität: In der Allensbach-Umfrage von 2021 im Auftrag der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz hat weit über die Hälfte (58 Prozent) der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gesagt, dass sie sehr oft oder oft ungeplant bei der Arbeit einspringen müssen. Alle Befragten hatten im Durchschnitt 71 Überstunden auf ihrem Arbeitszeitkonto. Wie konnte es so weit kommen? Warum ist der Mangel an Pflegefachpersonen so groß, dass es in Rheinland-Pfalz inzwischen 2.354 unbesetzte Stellen in der Alten- und Krankenpflege gibt? Die Gründe sind politischer und demografischer Natur, teilweise liegen sie weit in der Vergangenheit.

Seit 2004 zählen vor allem Diagnostik und OPs 

In den Kliniken ist die Einführung der Fallpauschalen, der DRGs (Diagnosis Related Groups), 2004 ein entscheidender Faktor: Die Vergütung der Krankenhäuser orientiert sich seither vor allem an Operationen und Diagnostik (CT, MRT etc.) und nicht mehr an der Verweildauer. Weichere Faktoren wie Mobilisation, Ernährung und Beratung werden in den Fallpauschalen weniger berücksichtigt – sie sind, wie Ökonomen es ausdrücken, nicht „erlösrelevant“. Der Umsatz findet nun hauptsächlich in den OP-Sälen statt. Die Arbeit der Pflegefachkräfte scheint vielen Geschäftsführungen damit nebensächlich, zumal die Patienten auch immer früher entlassen werden, somit (auf dem ersten Blick) auch weniger Pflege in Anspruch nehmen.

So beginnen Krankenhausleitungen in dieser Zeit, Stellen in der Pflege zu kürzen, Ausbildungsabsolventen bekommen mancherorts nur noch befristete Verträge; es gibt weniger Ausbildungsplätze. Gleichzeitig aber steigt die Zahl der Patienten, nicht zuletzt als Folge der Ökonomisierung (je mehr Fälle, desto mehr Erlöse). Bald erkennen die Geschäftsführungen ihren Fehler, aber die Lücke beim Nachwuchs ist nur noch schwer zu korrigieren.

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Kein guter Trend: Pflegekräfte reduzieren Arbeitszeit 

Hinzu kommt: Weil Kollegen fehlen, steigt die Arbeitsbelastung. Das treibt manchen aus dem Beruf oder in den Frühruhestand. Seit einigen Jahren kursiert die Rede vom Pflexit. Konkrete Zahlen gibt es dazu allerdings nicht. Was Pflegedirektoren aktuell aber berichten, ist, dass immer mehr Pflegefachpersonen ihre Stunden reduzieren. So erzählt eine Pflegefachperson aus Berlin, dass von seinen rund 60 Kollegen auf einer chirurgischen Intensivstation nur elf in Vollzeit arbeiten. In der Altenpflege sind die Ursachen der Personalnot etwas anders gewichtet: Hier liegt es zum großen Teil an der extrem gestiegenen Nachfrage. So hat sich allein in Rheinland-Pfalz die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf zwischen 2009 (105.700) und 2019 (202.700) fast verdoppelt. Vor rund 15 Jahren konkurrierten die Betreiber noch um Bewohner. Heute hat kaum eine Pflegeeinrichtung noch Probleme, ihre Plätze zu füllen. Jetzt geht es darum, genügend Pflegefachpersonen zu finden.

Die Crux: Es gibt schlicht zu wenige Schulabgänger     

Am Fachkräftemangel in der Gesundheits- und Krankenpflege sowie in der Altenpflege zeigt sich der demografische Wandel in aller Deutlichkeit: Es gibt immer mehr alte Menschen, die von immer weniger jungen Menschen versorgt werden müssen. Nach wie vor interessieren sich Schulabgänger für den Pflegeberuf, und es gibt auch viele hochmotivierte und engagierte Berufseinsteiger. Auch vor 30 oder 40 Jahren hat sich immer nur ein bestimmter Anteil für die Pflege interessiert (so wie sich auch nur ein bestimmter Anteil für das Bankwesen, das Bäckergewerbe oder den Lehrerberuf interessiert hat). Bis heute hat sich der prozentuale Anteil der jungen Leute, die in der Pflege arbeiten möchten, nicht verringert. Doch die Crux ist: Der Anteil bezieht er sich jetzt auf viel, viel weniger Schulabgänger.

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Was muss passieren?

Die Personalnot in der Pflege, das wird ganz deutlich, ist kein vorübergehendes Problem und auch kein neues Problem. Durch die Corona-Pandemie ist dies nun weiten Teilen der Gesellschaft bewusst geworden. Eine einfache Lösung gibt es nicht, aber es gibt Dutzende Vorschläge, wie sich die Situation mildern lässt – hier einige Beispiele.

Was Politiker tun können …

  • in der Altenpflege den geplanten Flächentarifvertrag schnell umsetzen
  • einen Steuerfreibetrag für Pflegekräfte einführen
  • die Pflegepersonalverordnung (PPR 2.0) ganz schnell einführen
  • Regelungen (Gesetze) finden, mit denen sich die Gewinne profitorientierter Pflegeunternehmen begrenzen lassen. So wird dafür gesorgt, dass die Überschüsse den Pflegebedürftigen und den Mitarbeitern zugutekommen und nicht nach außen an Investoren oder Aktionäre abfließen.
  • Pflege stärker mit Prävention verknüpfen: Präventive Hausbesuche, wie sie etwa in Dänemark üblich sind, können Pflegebedürftigkeit hinauszögern oder verhindern und so den übermäßigen Bedarf an Pflegefachpersonen in Krankenhäusern reduzieren.
  • geriatrische Rehabilitation fördern. Auch sie kann Pflegebedürftigkeit hinauszögern oder verhindern. Wegen schlechter Vergütung wird sie aber kaum angeboten. Das Problem: Die Krankenkassen sind nicht motiviert, Pflegebedürftigkeit durch Reha zu verhindern, weil sie für Pflegebedürftigkeit nicht aufkommen müssen (das muss die Pflegekasse).    
  • die beruflichen Perspektiven für Pflegefachpersonen verbessern, indem sie ihr mehr Eigenverantwortung bei heilkundlichen Tätigkeiten ermöglichen, neue Berufsfelder (etwa Community Health Nursing) fördern und die Möglichkeiten dualer Akademisierung ausweiten.
  • Supervision, Resilienz- und Gesundheitsprogramme, psychologische Begleitung und Erholungsangebote für Pflegende fördern.

Träger von Kliniken, Pflege- und Betreuungseinrichtungen können …

  • Springerpools, Bereitschaftsdienste und Ähnliches einrichten, damit Pflegekräfte auf den Stationen und in den Wohnbereichen nicht mehr an ihren freien Tagen ungeplant einspringen müssen. die Schichtbesetzung großzügig planen, damit die Kollegen im Falle einer Krankmeldung die Arbeit kompensieren können.
  • Exit-Gespräche führen, um herauszufinden, warum Kollegen das Haus verlassen – und an diesen Punkten arbeiten.
  • Arbeitszeiten flexibilisieren
  • Personaluntergrenzen einhalten, im Zweifel Betten sperren: Immer wieder ist von Intensivstationen zu hören, die kurzzeitig einer Pflegefachperson drei Patienten zuordnen – auch um Erlöse zu sichern. Doch der Preis für dieses Vorgehen ist hoch: Selbst junge, fitte Pflegefachpersonen berichten, dass die stressbeladene Situation, in der die Patientensicherheit auf dem Spiel steht, nur schwer auszuhalten ist.
  • Führungskräfte (Pflegedienstleitungen, Stations- und Wohnbereichsleitungen) eingehend schulen und in schwierigen Situationen Unterstützung anbieten, um sicherzugehen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zeiten der Personalnot nicht demotiviert, sondern im Gegenteil gut aufgefangen werden.
  • Mitarbeiter weiterbilden, fortbilden sowie bei Bachelor- und Master-Pflege-Studiengängen unterstützen und anschließend Perspektiven bieten: Das ist gerade in Zeiten der Personalnot wichtig, um die Qualitätsstandards zu sichern. Auch sorgt es dafür, dass gerade die Engagierten im Beruf bleiben und nicht frustriert werden.
  • möglichst auf Kampagnen verzichten: Träger investieren besser in gut eingearbeitete Mitarbeiter als in Arbeitgeberattraktivitätskampagnen, mit denen sie Pflegefachpersonen aus ebenfalls unter Druck stehenden Häusern abwerben. So halten die Träger ihre Pflegefachpersonen im Haus und im Beruf und werden oft noch mit Mundpropaganda (etwa in den sozialen Medien) belohnt. Das wirkt besser als Plakate und Video-Clips. 
  • das Management regelmäßig Stationen bzw. Wohnbereiche besuchen lassen: So werden Missstimmungen rasch bemerkt – vor allem mögliche Unzufriedenheit von Auszubildenden: Nicht selten brechen sie ab, weil sie auf Station von den Älteren nicht wirklich einbezogen, überfordert oder mit Handlangertätigkeiten beschäftigt werden. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, heißt es: beherzt eingreifen!

Pflegekräfte können …

  • gemeinsam an die Leitung herantreten, wenn die Belastung zu hoch ist – der Ratschlag klingt profan, wird aber zu selten umgesetzt. Zögern ist nicht nötig: Pflegekräfte befinden sich augenblicklich in einer guten Position. Wer sachliche Kritik oder gar Verbesserungsvorschläge vortragen kann, hat gute Aussichten, auf offene Ohren zu stoßen. Auch kann ein solches Gespräch dazu beitragen, dass der Arbeitgeber sich doch noch einmal besonders bemüht, neue Mitarbeitende zu finden, flexiblere Arbeitszeiten anzustreben und, und, und …
  • wenn sie überzeugt sind, dass sie die Verantwortung in einer Schicht wegen Personalmangels nicht tragen können, eine Überlastungsanzeige schreiben. Dabei sind allerdings einige Regeln zu beachten.
  • Kollegen ansprechen, die sich sichtlich verändert haben, bedrückt, frustriert oder zynisch wirken – sofern man sich dazu in der Lage fühlt. Dadurch löst sich das Problem der Kollegin oder des Kollegen nicht sofort, es könnte aber ein erster Schritt sein. Auch auf die Team-Atmosphäre wirkt sich ein solcher Schritt oft günstig aus, weil offene Gespräche fast immer die Anspannung reduzieren.
  • ihre Resilienz fördern, für Pausen und kurze Entspannungsmomente sorgen. Es sei ein kurzes Innehalten im Alltag, meint Stressforscher Dr. Omar Hahad vom Leibniz-Institut für Resilienzforschung in Mainz. Hilfreich kann auch sein, sich morgens und abends ganz für sich allein an zwei bis drei Kleinigkeiten zu erinnern, für die man im Laufe einer Schicht dankbar war – das Lob eines Bewohners vielleicht oder der Kollege, der einem Kaffee gebracht hat. Sich das bewusst zu machen, kann die Widerstandskraft stabilisieren. Stressforscher Hahad empfiehlt außerdem, täglich eine positive Aktivität in den Tag zu integrieren: ein Hobby, ein Gespräch oder Treffen mit Freunden. Und ganz wichtig: In turbulenten Phasen nicht auf ausgleichende Mechanismen verzichten. „Oft neigen wir in hektischen Zeiten dazu, die Erholung quasi als Belohnung ans Ende zu stellen. Doch das ist nicht empfehlenswert, da wir dann in eine übermäßige, kontraproduktive Anspannung geraten“, sagt Dr. Omar Hahad.

Wenn Pflegekräfte durch bestimmte Übungen und Gedanken versuchen, in Balance zu bleiben, heißt das nicht, dass sie die Verhältnisse akzeptieren. Sie bewahren sich aber Energie, um die Zeit außerhalb der Arbeit nach ihren Wünschen gestalten zu können, sich eventuell berufspolitisch zu engagieren und dem Arbeitgeber, wenn es nötig ist, Grenzen zu setzen.

Autorin: Kirsten Gaede

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