pflegen-online: Herr Dierbach, was ist der Kerngedanke Ihres Pflegemodells in der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr?
Oskar Dierbach: Das Konzept der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen unterscheidet sich fundamental im Verständnis von Altenpflege, wie sie bislang gedacht wird. Wir wollen uns nicht damit zufrieden geben, dass wir das Ende des Wegs sein sollen – wenn nichts mehr geht, dann kommt die Pflege, und danach kommt der Bestatter. Diese Perspektive reicht uns nicht, wir stellen stattdessen die Frage: Trifft das wirklich auf alle Menschen in der stationären Pflege zu? Ist es tatsächlich so, dass die anderen Möglichkeiten – die rehabilitative Pflege und die Rückkehr ins Leben – nicht mehr bestehen?
Und wie lautet Ihre Antwort?
Unsere Erfahrung zeigt: Es ist ganz klar nicht bei allen so. Sicher – auch bei uns sterben Menschen, auch wir können, beispielsweise bei fortgeschrittener Demenz, mit Rehabilitation nur begrenzt etwas aktiv erreichen. Aber es gibt eine große Zahl von Menschen, die zwar in eine starke körperliche, seelische, soziale Einschränkung geraten sind – die man aus dieser Situation aber wieder herausholen kann.
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Was bei Ihnen auch heißt: Menschen wieder ins eigene Zuhause zu bringen. Nach Angaben der AOK Rheinland/Hamburg konnten Sie binnen drei Jahren 170 Bewohner aus der stationären Pflege entlassen. Wie schaffen Sie das?
Alle bei uns Versorgten – ob in der Kurzzeit-, Tages- oder vollstationären Pflege, ob somatisch oder gerontopsychiatrisch erkrankt – erhalten eine therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen. Jeder, der schon einmal nach einem Unfall oder aufgrund einer Erkrankung nicht mehr so konnte wie zuvor, kennt doch die Sehnsucht, wieder auf die Beine zu kommen. Warum sollte das mit 75 oder 80 Jahren anders sein? Auch die Situation derjenigen, die wir am Ende nicht nach Hause schicken können, lässt sich vielfach zumindest bessern. Das kann bedeuten, dass jemand vielleicht nicht komplett mobil wird, es aber immerhin schafft, wieder allein zu essen. Oder dass ein lange ruhiggestellter Mensch im ersten Schritt wenigstens aus seiner inneren Versenkung auftaucht. Das sind doch genauso Fortschritte – die auch das Gesamtklima einer Einrichtung prägen.
Weil sich der Fokus der Pflege verschiebt?
Trotz aller Reformen hat die Altenpflege das Prinzip der Defizitorientierung bis heute nicht überwunden. Stets wird gefragt, was ein Mensch nicht kann – und dieses Denken belohnt, indem sich die Leistungen hieran bemessen. Damit subventionieren wir in einem marktwirtschaftlichen System letztlich die Defizite, statt in den Vordergrund zu stellen, was der Mensch morgen vielleicht wieder können wird.
Und wie sieht die therapeutisch-rehabilitative Pflege in der Praxis aus?
Bei jeder Aufnahme findet zunächst ein Eingangskonsil statt, aus dem wir die Therapieziele ableiten. An den Beratungen nehmen ein Apotheker, ein Neurologe, ein Internist, die Physiotherapeuten und Pflegekräfte teil. Dieser enge Austausch wird im Alltag fortgesetzt. Das heißt, dass die Fachpflegekraft beispielsweise den Apotheker direkt anruft, um Beobachtungen zu schildern und nach Zusammenhängen zu fragen. Diese Information kann sie wiederum mit dem Internisten besprechen, um etwa ein Medikament zu ersetzen und Nebenwirkungen zu verringern. So etwas muss kontinuierlich geschehen, damit die Wirkung des Eingangskonzils nicht verpufft – und zwar zwischen allen Beteiligten. Das ist die hohe Kunst innerhalb der Einrichtung und eine ständige Aufgabe der Leitung: dafür zu sorgen, dass diese Begegnungen zwischen den Verantwortlichen, die alle nicht über Langeweile klagen, tatsächlich stattfinden.
Sie sagen, der Apotheker stoße beim Eingangskonsil häufig auf einen Medikamentenmix, der an Körperverletzung grenze. Wodurch kommen solche Fehlmedikationen zustande?
Dieses Problem sehen wir bei gut 75 Prozent der Menschen, die zu uns kommen. Ein Grund ist, dass viele im häuslichen Umfeld zu Medikamentensammlern werden. Verordnungen können sich leicht addieren, wenn verschiedene Ärzte aufgesucht werden und sie untereinander zu wenig kommunizieren. Hinzu kommt, dass durchaus nicht alle Allgemeinmediziner in der Lage sind, die Wechselwirkungen von Medikamenten korrekt einzuschätzen. Ein drittes, nicht zu unterschätzendes Phänomen sind hausgemachte Demenzen und delirante Zustände. Gerade bei älteren Menschen, die eine Akutklinik durchlaufen und die nicht unbedingt so reagieren, wie es der Klinikbetrieb braucht, kann der Personalmangel zu medikamentösen Notfallreaktionen der Mitarbeitenden und Ärzten führen. Die Patienten oder Bewohner geraten in eine medikamentöse Dauerschleife. Das passiert in Heimen genauso wie in Kliniken.
Wie handhaben Sie das Problem der Über- oder Fehlmedikation?
Das Prinzip unseres Neurologen ist es, Medikamente – wo immer möglich – abzusetzen. Auch hierbei brauchen wir Pflegekräfte, die Hand in Hand arbeiten. Denn die Versorgung wird zunächst aufwendiger, insbesondere bei der Absetzung von Psychopharmaka. Doch es lohnt sich immer, diese Übergangsphase durchzuhalten: Was gibt es Besseres, als zu sehen, dass Sie einen Menschen aus dem Niemandsland zurückgeholt haben – jemanden, den Sie am Ende vielleicht sogar wieder in sein eigenes Zuhause entlassen können?
Können Sie uns ein Fallbeispiel schildern, das exemplarisch diesen Weg veranschaulicht?
Wir hatten eine Dame bei uns, Anfang 80, mit der Diagnose: nur in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Auf Anfrage unseres Neurologen nahmen wir sie dennoch auf. Nach einer Hirnblutung hatte sie mehrere Kliniken bis zur Gerontopsychiatrie durchlaufen. Sie wurde lange sediert und über Sonde ernährt, ihre Denk- und Merkfähigkeit war komplett gestört.
Nachdem wir die Medikamente, insbesondere die Sedativa, reduziert hatten, entwickelte sie in den Nächten Wachheitsphasen. Also begannen wir nachts mit der Essens- und Trinkversorgung, weil wir sie immerhin aufsetzen konnten. Durch weitere Arzneimittelreduzierung schaffte sie es, nach Monaten erstmals wieder aus dem Bett aufzustehen. Mit der Hilfe von zwei Pflegekräften konnte sie ein paar Schritte laufen, auch das fand aufgrund des gestörten Tag-Nacht-Rhythmus zunächst nur nachts statt.
Die Pflegeabteilung der AOK Rheinland/Hamburg hat unsere Krankenhauskosten der vergangenen fünf Jahre mit denen der anderen Versicherten in nordrhein-westfälischen Heimen gegengerechnet. Und festgestellt: Wir liegen unter 40 Prozent der durchschnittlichen Klinikkosten.
Wie ging es weiter mit der Bewohnerin, die eigentlich in einer geschlossenen Einrichtung leben sollte?
Nach dieser Grundstabilisierung haben wir das Bewegungs- und Kognitionstraining schrittweise fortgesetzt. Durch Lichttherapie konnte ihr Tag-Nacht-Rhythmus normalisiert werden. Was aber nicht heißt, dass ihre Aktivitäten sich plötzlich nach dem Zeitplan der Evangelischen Altenhilfe richteten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Sie können Menschen, die Traumatisches erlebt haben, nicht in die Zeitpläne einer Rehaklinik pressen. Stattdessen müssen Sie schauen: Welche Taktung gibt uns dieser Mensch vor – und wie können wir diese Taktung langsam mit unserer eigenen synchronisieren.
Warum ist diese individuelle Herangehensweise so entscheidend?
Wenn Motivation und Taktung vom pflegebedürftigen Menschen ausgehen, haben Sie mehr als 50 Prozent dessen, was den Erfolg ausmacht, bereits in der Hand. Was wir fachlich können, kommt dann auch wirklich an – weil der Zeitpunkt und die seelische Verfassung stimmen.
Nun stehen ja weder der Physio- noch der Ergotherapeut oder der Logopäde rund um die Uhr am Bett eines Bewohners, um den geeigneten Zeitpunkt für eine Maßnahme zu erwischen. Übernehmen also die Pflegekräfte grundsätzlich einen Teil der Therapie?
Das ist Teil des Konzepts; anders funktioniert es nicht. Die Therapie soll eben nicht nur zweimal die Woche zu festgelegten Zeiten stattfinden, sondern Impuls für das tägliche Handeln sein. Und im Alltag sind es die Pflegekräfte, die unmittelbar an der Seite der Menschen stehen und ein Vertrauensverhältnis aufbauen – das macht sie zu Schlüsselfiguren, durch die Rehabilitation überhaupt stattfinden kann. Sie erkennen den richtigen Augenblick und setzen dann selbst therapeutische Elemente um. Im genannten Fall hat beispielsweise der Krankengymnast mit der Pflegekraft im Vorfeld besprochen, wie sie nachts die Mobilisierung fördern konnte. Erst später arbeitete er tagsüber selbst mit der Bewohnerin. Manchmal ist es auch umgekehrt: Dann übernehmen die therapeutischen Fachkräfte den Einstieg und erklären den Pflegekräften, wie sie weiter vorgehen können.
Wie lange war die Dame aus dem Fallbeispiel bei Ihnen?
Sie blieb achteinhalb Monate bei uns, dann konnten wir sie entlassen. Danach hat sie jahrelang mit ihrem Mann zuhause gelebt.
Unsere Mitarbeitenden gehen nach Hause mit der Perspektive: Weil es sie gibt, weil sie etwas können, geht es den Menschen heute besser als gestern.
Eine Erfolgsgeschichte, die sich Ihre Pflegekräfte auf die Fahne schreiben können?
Unsere Mitarbeitenden gehen nach Hause mit der Perspektive: Weil es sie gibt, weil sie etwas können, geht es den Menschen heute besser als gestern. Diese Bestätigung können Sie durch kein Geld der Welt aufwiegen, wenn es um Personalnotstand, um die Motivation und die Gewinnung von Mitarbeitenden geht. Der Anreiz, 100 Euro mehr zu verdienen, bedeutet nichts im Vergleich mit der Gewissheit, dass die eigene Fachkompetenz Leben verbessert hat.
Wie wirkt sich das auf die Fluktuation in Ihren Häusern aus?
Wir haben bei unseren Mitarbeitenden eine durchschnittliche Beschäftigungsdauer von knapp 20 Jahren. Wenn Sie es schaffen, eine Pflege zu etablieren, in der das Team den Menschen gerecht werden kann, fördern Sie nicht nur die Kontinuität in einer Einrichtung, sondern auch die Mitarbeitergesundheit. Diese Wirkung ist betriebswirtschaftlich kaum aufzuwiegen in einer Zeit, in der Pflegekräfte schwer zu gewinnen sind oder sie den Arbeitgebern weglaufen. Das ist ein ganz hohes Gut auch mit Blick auf das Fachpersonal, das sieht: Ich bin hier nicht nur der Grundversorger, sondern jemand, der mit seinem Wissen den Menschen wirklich hilft.
Menschen aus ihrer Pflegebedürftigkeit herauszuhelfen, sie im Idealfall nach Hause entlassen zu können: Kann sich Ihr Konzept denn rechnen, wenn es doch dem gängigen Geschäftsmodell der Pflege widerspricht?
Wir müssen in Deutschland nicht nur das Defizitdenken überwinden, sondern auch die Angst, menschenwürdige Pflege würde uns arm machen. Die Pflegeabteilung der AOK Rheinland/Hamburg hat unsere Krankenhauskosten der vergangenen fünf Jahre mit denen der anderen Versicherten in nordrhein-westfälischen Heimen gegengerechnet. Und festgestellt: Wir liegen unter 40 Prozent der durchschnittlichen Klinikkosten.
Die therapeutische Pflege mit rehabilitativen Anteilen führt letztlich zu weniger Krankenhausaufenthalten, geringeren Behandlungs- und Arzneimittelkosten. Unter der Auflage, dass das Modell eine wissenschaftliche Evaluation durchläuft, übernimmt die Kasse inzwischen unseren höheren Personalbedarf in der Pflege. Die nicht verordnungsfähigen Therapien wie Motopädie, Teile der Ergotherapie, Licht-, Mal- und Musiktherapie einschließlich der benötigten Instrumente und Materialien finanzieren wir über einen Förderverein.
Das Ziel ist es, mit der therapeutisch-rehabilitativen Pflege in die Fläche zu gehen?
Für die Evaluierung übernehmen zwölf Einrichtungen der stationären Altenpflege im Ruhrgebiet und in Hamburg unser Modell. Partner der Evangelischen Altenhilfe sind dabei die AOK Rheinland/Hamburg, die Medizinische Hochschule Brandenburg, die Universität Potsdam sowie die Deutsche Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Der Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses fördert das Projekt mit einer Laufzeit von vier Jahren. Und aus vielen Gesprächen mit Kollegen aus anderen Einrichtungen bundesweit kann ich nur bestätigen: Auch dort besteht der große Wunsch, Pflegebedürftigen mehr Lebensqualität zu ermöglichen und zugleich die tägliche moralische Verletzung von Mitarbeitenden zu beenden.
Interview: lin
Über Oskar Dierbach
Der geschäftsführende Pflegedienstleiter der Evangelischen Altenhilfe Mülheim an der Ruhr arbeitet seit 36 Jahren in der Altenpflege. Er hat das Konzept der therapeutischen Pflege mit rehabilitativen Anteilen selbst entwickelt. In den beiden Häusern der Evangelischen Altenhilfe ist es seit mehreren Jahren etabliert. Dierbach ist Partner des Projekts „Sektorenübergreifende gerontopsychiatrische Behandlung und Rehabilitation in Pflegeheimen“ (SGB-REHA), das im April in zwölf weiteren Einrichtungen starten soll.