Pflegen-online.de: Sie haben Deutschland immer wieder als ein Entwicklungsland in der Pflege bezeichnet, warum?
Patricia Drube: Vor einiger Zeit habe ich das Buch „Die wirtschaftliche und soziale Lage der beruflichen Krankenpflege in Deutschland“ von Georg Streiter aus dem Jahr 1924 gelesen. Nach der Lektüre war ich fassungslos, wie wenig sich in den letzten hundert Jahren in Deutschland verändert hat. Auch auf internationalen Pflegekongressen wird mir immer wieder vor Augen geführt, wie sehr sich Ausbildung und Rolle unserer Profession im deutschen Gesundheitswesen von denen anderer Kollegen in den meisten Ländern unterscheidet.
Was anderswo selbstverständlich ist, führen wir mühselig ein, erleben dabei hartnäckige Widerstände. Kollegen aus Spanien oder Portugal, die hier in Deutschland gearbeitet haben, sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt, weil sie sich als medizinische Hilfskräfte erfahren und Eigenständigkeit und Augenhöhe mit anderen Heilberufen vermisst haben. Deshalb ist es höchste Zeit, gerade jetzt Veränderungen umsetzen, da die Notwendigkeit durch die Corona-Pandemie offensichtlicher ist, denn je.
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Viele Pflegefachkräfte kehren ihrem Beruf den Rücken. Wo sehen Sie die Hauptgründe für diese Entwicklung?
Frage ich Kollegen, warum sie den Pflegeberuf hinter sich gelassen haben und was passieren muss, damit sie in die Pflege zurückkehren, antworten sie in der Regel einhellig: „Gesundheit darf keine Ware mehr sein.“ Tatsächlich scheinen im Klinikbereich Pflegepersonalkosten Platzhalter für betriebswirtschaftliche Optimierungsspiele aller Art zu sein. – Erst wenn Pflegende wahrnehmen können, dass ein politisches und gesellschaftliches Umdenken stattfindet, die Politik tatsächlich eine „Pflegewende“ einläutet und damit grundlegende Veränderungen im Gesundheitssystem und den Arbeitsbedingungen verbunden sind, können wir die Kollegen zurückgewinnen, die wir verloren haben und jene im System halten, die noch da sind.
Was müsste zum Beispiel dringend anders werden?
Pflegende müssen in allen Versorgungsbereichen fachlich weisungsfrei ihre Kompetenzen einsetzen können. Pflegekompetenz im Hinblick auf die Gesundheit der Bevölkerung muss in allen relevanten Entscheidungsprozessen eingebunden und gleichberechtigt in entsprechenden Strukturen widergespiegelt sein: Wir brauchen von der Profession selbst geleitete Abteilungen in Ministerien, medizinischen Diensten und auch im Kanzleramt, zum Beispiel durch die Etablierung einer Chief Government Nurse.
Und in der Corona-Pandemie brauchen wir zum Beispiel dringend spezifische Meldesysteme über Covid-19-Infektionen und -Todesfälle unter Pflegenden. Wir beobachten, dass es in Deutschland sehr von der Verantwortungsbereitschaft des einzelnen Arbeitgebers abhängt, ob das Pflegepersonal einen angemessenen Arbeitsschutz erfährt.
Wo sehen Sie die Ursachen für die relativ hohen Abbrecherquoten bei den Auszubildenden in der Pflege? Nur ein Teil von ihnen gehört zu jenen, die ihr Medizinstudium beginnen können.
Hohe Abbrecherquoten kommen nicht von Ungefähr. Junge Auszubildende gehen motiviert in ihre Pflegeausbildung. In der Praxis treffen sie dann auf traumatisiertes, frustriertes Fachpersonal und Arbeitgeber, die sie verwerten statt ausbilden. – Und trotzdem haben die Kollegen eine immens hohe Identifikation mit ihrem Beruf und engagieren sich häufig über das normale Maß hinaus für Patienten und Auszubildende. Die Belastungen sind aber so immens hoch, dass dieses Engagement nicht mehr ausreicht, das kaputte System zu tragen. Durch die Pandemie wurde das noch verstärkt: Viele zeitintensive Aufgaben sind dazugekommen, wie Hygienekonzepte schreiben, Mitarbeiter in Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen unterweisen, Besuchsregelungen umsetzen und Angehörige unterweisen et cetera.
Ministerien und Arbeitgeber können deshalb noch so eindrucksvolle Rekrutierungskampagnen an den Start bringen: Wenn die aktuellen Botschafter in der Pflege ausgebrannt und desillusioniert sind, werden diese Kampagnen auf keinen fruchtbaren Boden fallen.
Vorbehaltstätigkeiten, im neuen Pflegeberufegesetz erstmals klar benannt, wie Erhebung des Pflegebedarfs, Organisation und Evaluation des Pflegeprozesses, werden von Assistenzaufgaben getrennt. Widerspricht das nicht dem Grundsatz, Pflegeprozesse ganzheitlich zu gestalten und zu lenken?
Die Definition von Vorbehaltsaufgaben widerspricht der Ganzheitlichkeit nicht. Die Pflegefachperson ist in fachlicher Hinsicht diejenige, die den Prozess managt. Sie handelt mit der pflegebedürftigen Person aus, was die Ziele und die damit korrespondierenden Interventionen sind und wie die Versorgung gestaltet werden soll. Auf dieser Grundlage entscheidet sie, welche Anteile sie an wen mit welcher Qualifikation delegiert und welche Anteile sie wann selbst übernimmt. Sie bewertet nach aktueller Situation und ändert den Plan in Absprache mit der pflegebedürftigen Person, wenn es erforderlich ist.
Gerade durch die Aufsplitterung des Pflegeprozesses können meines Erachtens Bewohner und Patienten gefährdet werden? Wie schätzen Sie das ein?
Wenn die Pflegefachperson die in die Versorgung eingebundenen Pflegeassistenten und deren Kompetenzen kennt und ihnen klare Anweisungen gibt, sehe ich keine Patientengefährdung.
Das Problem besteht darin, dass in der Praxis nicht die zuständige Pflegefachperson entscheidet, wer mit welcher Qualifikation welchen Teil der Versorgung übernimmt, sondern derjenige, der den Dienstplan schreibt. Die Arbeitsteilung ergibt sich häufig aus der Arbeitsorganisation heraus, so dass verantwortete Delegation nicht bewusst stattfindet. Wenn der Praktikant oder Auszubildende dann auf Station kommt, man ihm ein Utensilien-Körbchen in die Hand drückt mit der Ansage: „Wasch mal Frau Meyer“, dann sind das die Situationen, in denen Patienten gefährdet und potenziell Auszubildende abgeschreckt werden.
Wie können Misshandlungen wie in Schliersee, Celle oder Gleusdorf rechtzeitig verhindert werden?
Die Personalausstattung spielt auch hier eine entscheidende Rolle: Sie ist Voraussetzung dafür, dass Mitarbeitende Zeit für gemeinsame Reflexionen haben. Missstände zu erkennen und zu benennen hat viel mit dem Konflikt zwischen vermeintlicher Kollegialität und dem eigenen Anspruch an die Berufsethik zu tun. Es wäre hilfreich, wenn es jährliche Pflichtfortbildungen zum Thema „berufliche Haltung“ und noch viel mehr Bildungs- und Aufklärungsarbeit geben würde, wie die frühen Anzeichen erkannt werden. Ich halte es zusätzlich für außerordentlich wichtig, dass in Fällen, in denen Missstände bekannt werden, die Klärung der Ursachen und die Unterstützung der Berufsangehörigen Priorität haben.
Welche Bedeutung geben Sie hier den Pflegekammern?
Die Landeskammern sind zwar gesetzlich legitimiert, bei Verstößen Berufsgerichtsverfahren einzuleiten. Es sollte aber nicht in erster Linie darum gehen, zu sanktionieren: Aufgabe der Kammern muss es sein, zu ergründen, warum Pflegefachpersonen gegen das Berufsrecht verstoßen. Gegebenenfalls muss diesen Fachkräften Unterstützung zu Teil werden. Alle Missstände müssen sorgfältig analysiert werden, um Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten. Doch was in Deutschland fehlt, ist der noch immer unzureichende gesetzliche Schutz von Whistleblowern.
Die Pflegekammer Schleswig-Holstein, zu deren Errichtungsausschuss sie gehörten und deren Präsidentin sie sind, hat Ende Januar 2021 die Einrichtung einer Meldestelle für Verstöße und Patientengefährdungen angeregt. Wo könnte eine solche Meldestelle verortet sein?
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, eine Meldestelle einzurichten. Wichtig ist, dass diese Stelle vom Land autorisiert ist und ein Aufsichtsgremium Neutralität und Unabhängigkeit überwacht und bestätigt. Somit ist eine Pflegekammer in jedem Fall geeignet. Eine Herausforderung wird sein, die Anonymität der meldenden Personen zu schützen. Durch eine solche Meldestelle könnte man dafür sorgen, dass Personen, die Missstände beobachten, wissen, an wen sie sich wenden können. Gleichzeitig könnte man gewährleisten, dass eingehende Meldungen unabhängig überprüft werden.
Interview: Melanie M. Klimmer
Patricia Drube
Die Präsidentin der Pflegekammer Schleswig-Holstein, geboren 1970, ist Präsidiumsmitglied der Bundespflegekammer, an deren Entwicklung sie maßgeblich mitgewirkt hat. Seit 2018 ist die gelernte Altenpflegerin ehrenamtliche Präsidentin der Pflegeberufskammer in Schleswig-Holstein, der zweiten deutschen Kammer für Pflegeberufe nach Rheinland-Pfalz.