Bewohner sollen in einem Pflegeheim in Celle (Niedersachsen) mit Decken unter Schmerzen fixiert und tagüber in ihren Betten liegen gelassen worden seirn; Pflegekräfte hätten sich geweigert, einen Bewohner mit einem amputierten Bein zur Toilette zu begleiten - als er sich selbst auf den Weg machte, seien die Nähte geplatzt. Mehr Details und Hintergründe über die vermutlichen Misshandlungen berichtete die Süddeutsche Zeitung am 29. Juni.
Holding-Geschäftsführer Helmut Wallrafen: „In unserem Beruf braucht man Ventile“
Ich kann im Jahr 2020 nicht akzeptieren, dass Mitarbeiter, die sehen, dass andere Mitarbeiter Gewalt ausüben, schweigen müssen und Angst haben. Dass sich Gefühle von Aggression aufbauen können, ist verständlich – die Versorgung pflegebedürftiger alter Menschen ist eine Tätigkeit, die einen körperlich und psychisch stark fordert. Nur: Man darf das nicht an anderen Menschen auslassen. Gewalt entsteht oft aus Überforderung heraus. Bei der Sozialholding gibt es seit Jahren ein Konzept zur Gewaltprävention. Dort steht wörtlich: „Gewalt wird nicht geduldet.“ Die Handlungsleitlinien fordern Mitarbeiter ausdrücklich dazu auf, auf Zeichen von Gewalt zu achten und sie an die verantwortlichen Leitungskräfte weiterzugeben. Wer sich nicht einrichtungsintern mitteilen möchte, für den haben wir eine anonyme psychologische Beratungs-Hotline bei einem externen Gesundheits-Dienstleister eingerichtet.
Und in jedem unserer sieben Heime gibt es ein Fitnessstudio: Da können Mitarbeiter Dampf ablassen können, auch während der Arbeitszeit. In unserem Beruf braucht man Ventile. Das ist wichtig, da baut sich ja manchmal was auf.
Helmut Wallrafen ist seit 24 Jahren Geschäftsführer der Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach GmbH, einem kommunalen Altenheimbetreiber mit sieben Standorten. In der Branche ist der staatlichen anerkannten Altenpfleger seit 43 Jahren tätig. In Talkshows ist Helmut Wallrafen gern gesehener Gast – zuletzt bei Dunja Hayali am 16. Juli 2020.
Psychiater Karl H. Beine: Halten Sie auch in Ihrer eigenen Einrichtung alles für möglich!
Leider sind solche Vorkommnisse wie jetzt in Celle keine Einzelfälle. Erstaunlich und nicht nachvollziehbar ist das fehlende Problembewusstsein von Führungskräften. Bei einer Befragung von Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragten im Jahr 2017 in Altenheimen gaben 54 Prozent an, dass körperliche Gewalt „insgesamt in der stationären Pflege“ nie vorkomme. Das entspricht weder dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand noch meiner Erfahrung.
Grundvoraussetzung für eine Risikominimierung ist, dass zunächst einmal alle Mitarbeiter*innen, insbesondere Leitungen, es für möglich halten, dass so etwas in der eigenen Einrichtung, am eigenen Arbeitsplatz geschehen kann.
Und dann geht es natürlich um Klärung: Man muss miteinander darüber reden. Führungskräfte dürfen sich durch befürchtete Imageschäden für die eigene Einrichtung oder Kritik am Führungsstil nicht davon abhalten lassen, dem Schutz ihre Bewohner*innen höchste Priorität zu geben. Es muss nämlich klar sein, dass wir hier nicht über Irrtümer, sondern über Straftaten reden und dass für die Klärung eines begründeten Verdachtes Ermittlungsbehörden zuständig sind.
Leider ist es so, dass diejenigen die mutig diese Dinge angesprochen haben, keinen Orden bekommen haben, sondern als Nestbeschmutzer gemobbt oder entlassen wurden. Führung muss glaubhaft vorleben, dass Übergriffe weder geduldet noch unter den Teppich gekehrt werden. Grundvoraussetzung dafür ist ein offener Umgang mit dem Thema Gewalt und eine ausreichende Anzahl von ausreichend qualifizierten Mitarbeiter*innen.
Karl H. Beine hat verschiedene Bücher über Krankentötungen in Kliniken und Heimen geschrieben (etwa Krankentötungen in Kliniken und Heimen. Aufdecken und Verhindern). Der Professor für Psychiatrie lehrt an der Universität Witten/Herdecke und war bis 2019 Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie im St. Marien-Hospital Hamm.
Pflegekritiker Claus Fussek: Hinweisgeber brauchen besonderen Schutz
Der „Fall Celle“ hat mich „überrollt“. Man hat mir Fotos und Informationen zugespielt. Es ist absolut schockierend! Doch „Celle“ ist überall! Schon seit Jahrzehnten berichten mir verzweifelte, traumatisierte Pflegekräfte von Demütigungen, Erniedrigungen, massivsten Vernachlässigungen, Misshandlungen, Gewalt, Machtmissbrauch, Diskriminierungen von pflege- und schutzbedürftigen Menschen in zahlreichen Pflegeeinrichtungen durch Pflegepersonal.
Die allermeisten Pflegekräfte wollen absolute Anonymität. Was sich im „Fall Celle“ wieder bestätigt: Es gibt keinen Schutz für Pflegekräfte, die Missstände anprangern. Die eigentliche Katastrophe aber ist: Alle wissen Bescheid und verdienen am Elend: Kirchen, Gewerkschaften, Politiker, Lehrkräfte an Pflegeschulen, Zeitarbeitsagenturen, MDK, Heimaufsicht, Ärzte, Rettungssanitäter, Betreuer, Bestatter. Trotzdem wird seit 30 Jahren verharmlost, geleugnet, relativiert und weggeschaut. Trotzdem bleiben brutale Pflegekräfte im System, werden wieder- oder weiterbeschäftigt. Die Anständigen werden hinausgedrängt, gemobbt, gekündigt aus dem Beruf abgedrängt, weil sie mutig sind und sich auf die Seite der Schutzbedürftigen stellen, es nicht mehr ertragen können. Jeder in diesem System trägt Verantwortung!
Wir brauchen in den Heimen endlich ein Frühwarnsystem, Zivilcourage, die Einhaltung des ICN-Ethikkodex. Hinweisgeber brauchen einen besonderen Schutz vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen und vor Mobbing. Anders können solche Gewaltexzesse wie in Celle nicht eingedämmt werden. Wir brauchen endlich einen Aufstand der Anständigen! Pflegekräfte müssen Anwalts- und Schutzengelfunktionen übernehmen und denen eine Stimme geben, die keine Stimme mehr haben, sonst machen sie sich zu Mittätern. Pflegekräfte müssen sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.
Seit rund 30 Jahren geht Claus Fussek Beobachtungen und Beschwerden von Pflegekräften, Angehörigen und Pflegebedürftigen nach. Der Münchener war (und ist) in zahlreichen Talkshows zu Gast, hauptberuflich arbeitet er als Sozialpädagoge bei der Vereinigung Integrationsförderung (VIF).
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Palliativ-Expertin und Personaltrainerin Ingrid Hametner: Wer Gewalt beobachtet, muss etwas tun
Gerade haben wir in Corona-Zeiten die Menschen in der Pflege gefeiert und jetzt erschreckt ein Pflegeskandal in Celle… Das ist zutiefst erschütternd, dadurch wird eine gesamte Berufsgruppe abgewertet. Durch Corona sind die Leistungen in der Pflege endlich aufgefallen, die Bedeutung des Berufes für ein funktionierendes Gemeinwesen wurde erkannt.
„Pflegen kann jeder/jede“ war ein verbreitetes Vorurteil, das die Geringschätzung professioneller Kenntnisse enthielt und zulasten aller Beteiligten existierte. Gerne wurde darüber weggesehen, dass Pflege und besonders die Langzeitpflege mehr erfordert, als das, was jeder/jede kann.
Hier gilt es endlich die Komplexität der Banalität und die gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Über die Inhalte der Altenpflege muss über die Corona-Krise hinaus diskutiert werden. Um der Rede von der Menschlichkeit endlich Substanz zu verleihen, sind weiterführende politische Entscheidungen notwendig. Besonders die Pflege alter Menschen mit gerontopsychiatrischen Krankheitsbildern oder auch die palliative Pflege stellen professionelle Herausforderungen dar.
„Die Gewalt lebt davon, dass sie von anständigen Menschen nicht für möglich gehalten wird“ sagte schon der französische Philosoph und Autor Jean-Paul Sartre. Wir dürfen aber dieses Thema nicht aus den Augen verlieren. Wenn wir bedenken, dass Gewalthandlungen häufig in Überforderungssituationen stattfinden, in denen die professionelle Distanz fehlt, müssen wir hinsehen und dürfen nicht wegsehen. Ähnlich wie beim Mobbing gibt es immer Opfer, Täter und Zuschauer.
Alle Menschen haben ein Recht vor Gewalt geschützt zu werden. Wer Gewalt gegenüber alten Menschen beobachtet, muss was tun.
Ingrid Hametner ist Diplom-Pädagogin, Krankenschwester, Lehrerin für Pflegeberufe sowie ausgebildete Management- und Personaltrainerin. Seit vielen Jahren arbeitet sie erfolgreich in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Profis im Pflegebereich. Bei der Schlüterschen Verlagsgeswellschaft sind von ihr unter anderem 100 Fragen zu Palliativ-Care und 100 Fragen zum Umgang mit Menschen mit Demenz erschienen.
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Altenpflegerin und Beraterin Jutta König: PDLs und HLs, seid präsent in den Bereichen!
Zunächst darf ich anmerken, es sind Einzelfälle wie diese in Celle. Wir haben fast 1,2 Millionen Beschäftigte in Pflegeeinrichtungen ambulant und stationär, in über 26.000 Einrichtungen. Celle ist kein Maßstab für Altenpflege, Celle ist ein Mahnmal.
Leitungskräfte schaut euren Mitarbeitern in die Augen, hört zu. Gleiches gilt für Kollegen. Ich denke nicht, dass die drei Tatverdächtigen in Celle schon immer schlechte Menschen waren, irgendetwas hat sie dazu gemacht. Und wenn Menschen nicht mehr wertgeschätzt und gesehen werden, kein Zuhause haben, das dies auffängt, können sie schon mal abdriften. Was nicht gleichbedeutend ist mit solch einem Handeln wie in Celle.
Neben Aufmerksamkeit und Achtsamkeit untereinander rate ich den PDLs und HLs an, seid präsent in den Bereichen, Luther würde sagen „dem Volk aufs Maul schauen“. So kann man vieles an Stimmung auf- und abfangen. Pflegevisiten und externe Audits ermöglichen zudem einen Einblick in die Arbeitsqualität. Eine 100-prozentige Sicherheit wird es dennoch niemals geben. Man kann Menschen immer nur vor die Stirn schauen, nicht dahinter.
Ich hoffe sehr, dass es den geschädigten und gepeinigten Klienten wieder besser geht und ich hoffe, dass die drei aus 1,2 Millionen Mitarbeitern die Pflege nicht nachhaltig beschädigen.
Jutta König ist Altenpflegerin, Pflegedienst- und Heimleitung, Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit (VWA), Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet sowie beim Landessozialgericht in Mainz, Unternehmensberaterin, Dozentin unter anderem für Heimgesetz und Betreuungsrecht. Bei der Schlüterschen Verlagsgesellschaft ist von Jutta König unter anderem erschienen: Dokumentationswahnsinn in der Pflege - es geht auch anders und Was die PDL wissen muss: Die neuen Qualitätsinstrumente sicher anwenden
Altenpflegerin und Autorin Eva Ohlerth: Ungeeignete Mitarbeiter dürfen die Probezeit nicht bestehen
Pflegekräfte bewahren oft Stillschweigen über die beobachtete Gewalt in deutschen Pflegeeinrichtungen. Die Dunkelziffer der Fälle an Gewalt und Misshandlung, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen, ist daher erheblich höher. Eine falsch verstandene „Kollegialität“ aber führt dazu, dass gewalttätige Pflegekräfte mit diesem Schweigen gedeckt werden. Mitarbeiter in Pflegeberufen haben oft Angst, gewaltbereite Kollegen zu melden, da sie berufliche Nachteile befürchten müssen. In Celle ist genau das passiert: Eine Pflegekraft wurde entlassen, weil sie sich mit Informationen über Missstände an die Pflegekammer gewendet hat. Wir brauchen in der Altenpflege daher dringend kompetente Führungskräfte, die ein Auge darauf haben, dass ungeeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Probezeit gar nicht erst bestehen. Der Beruf ist physisch und psychisch sehr anspruchsvoll – chronisch überlastete Pflegekräfte sollten daher einen Zugang zu psychologischer Hilfe erhalten, anstatt den Druck nur immer weiter zu erhöhen. Führungskräfte müssen sich für die richtigen Prioritäten in der Pflege und eine angstfreie Kultur stark machen. Denn wer in der Pflege arbeitet, sollte sich immer bewusst sein, welche Macht er über die anvertrauten und hilflosen Menschen hat und dass dies mit einer erheblichen Verantwortung verbunden ist. Es darf keine Ausrede mehr für Gewalt in der Pflege geben!
Eva Ohlerth ist Altenpflegerin lebt in München und arbeitet seit 30 Jahren in unterschiedlichsten Einrichtungen in Deutschland und augenblicklich in der außerklinischen Intensivpflege. Ihr Buch „Albtraum Pflegeheim“ (Oktober 2019) ist in zahlreichen Publikumsmedien besprochen (Süddeutsche, Welt, Focus et cetera) und in Talkshows (ZDF) mit Eva Olerth diskutiert worden.
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Pflegewissenschaftler Jürgen Osterbrink: Verrohung der Sprache und andere Anzeichen früh erkennen
Zuallererst ist eine umfassende Sensibilisierung für das Thema notwendig. Das heißt, die Möglichkeit gewaltvoller Pflege muss erkannt werden, erst dann werden sowohl Pflegende als auch Führungskräfte sensibel genug sein, Vorstufen von Gewalt zu erkennen und darum geht es ja im Grunde. Denn Gewalt braucht eine Bearbeitung an der Wurzel: Personalmangel, Führungsschwäche, Ignorieren von Verdachtsmomenten und so weiter.
Ein für jede Situation gültiges Rezept gegen Gewalt in der Pflege wird es nie geben. Sehr wohl gibt es aber Maßnahmen der Prävention. Genauso wie die Ursachen der Gewalt müssen Bewältigungsstrategien vielschichtig sein. Vorstufen von Gewalt wie etwa Lieblosigkeit und Respektlosigkeit, Verdinglichung des Patienten, Zynismus sowie eine Verrohung der Sprache und vieles mehr zu erkennen. Hier haben Führungskräfte besondere Verantwortung in der Gestaltung und Umsetzung der Rahmenbedingungen. In der Praxis wichtig ist, Pflegegruppen regelmäßig (zum Beispiel alle vier bis sechs Monate) neu zusammenzusetzen, damit innerhalb einer Gruppe Verhaltensweisen insbesondere in Risikobereichen professionell bleiben. Es bedarf eines offenen Umgangs mit Konflikten und Fehlern. Es muss anonyme und neutrale Anlaufstellen geben, an die sich Pflegende bei Verdachtsmomenten beziehungsweise festgestellten Missständen verlässlich wenden können.
Jürgen Osterbrink ist Krankenpfleger, Professor für Pflegewissenschaft an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg und Autor des Buches Gewalt in der Pflege: Wie es dazu kommt. Wie man sie erkennt. Was wir dagegen tun können
Seelsorger und Pfarrer Christoph Seidl: Christliche Grundregeln immer wieder in Erinnerung bringen
Schade, dass von Pflege hauptsächlich im Zusammenhang mit Skandalen die Rede ist, vom überwiegend gewissenhaften Dienst professioneller Pflegekräfte höre ich zu wenig.
Ungeachtet dessen alarmieren solche Missstände. Dass ethisches Handeln ethische Strukturen voraussetzt, muss nicht diskutiert werden. Innerhalb gerechter Rahmenbedingungen kommt es auf die persönliche Haltung an. Cicely Saunders, die Begründerin der Palliative Care, sagt: „Wir tun alles, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern bis zuletzt gut leben können.“ Und dazu gehört in erster Linie, den Schwächsten stets in Würde zu begegnen. Als christliche Grundregel ist bekannt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wer es lieber philosophisch mag, lese Immanuel Kant: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Diese Grundsätze sind Bestandteil der Ausbildung, stehen in jedem Leitbild und müssen regelmäßig in Erinnerung gebracht werden, sei es in der Teambesprechung, im Mitarbeitergespräch oder in der leider viel zu selten gepflegten Supervision.
Dr. Christoph Seidl ist Pfarrer und Seelsorger für Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen im Bistum Regensburg. In Fortbildungen, Oasentagen und geistlichen Auszeiten gehe es ihm, so sagt er, stets um die Besinnung auf die innere Motivation und das Menschenbild.