Warum ist der Krieg in der Ukraine bis heute ein tägliches Thema in Ihrer Einrichtung?
Bei uns leben 95 Bewohner, und wir haben ungefähr 120 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Als dieser Krieg ausbrach, war das bei unseren Bewohnerinnen und Bewohnern sofort ein existenzielles Thema. Da kam es schlagartig zu einer intensiven Auseinandersetzung – oft auch nochmal der eigenen Familiengeschichte. In unserem Haus arbeiten außerdem sehr viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, auch viele Menschen, die als so genannte „Russlanddeutsche“ zu uns gekommen sind. Insgesamt haben sehr viele in unserem Haus einen Bezug zu und auch sehr persönliche Erfahrungen mit Russland, aber auch zur Ukraine oder auch zu Polen.
Und das führte dann zu Konflikten?
Ja, dieser Krieg hat ganz viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tief berührt. Unsere Einrichtung hat oft regelrecht gebebt, da gab es wirklich viele Auseinandersetzungen. Dazu kam bei den Russlanddeutschen die Schwierigkeit der Identität: in Russland waren sie immer die Deutschen. Und in Deutschland sind sie immer die Russen. Schon eine sehr komplizierte Gemengelage.
Wie kam es dann dazu, dass Sie dann diese täglichen Schweigeminuten eingeführt haben?
Den Ausschlag dafür gab ein Erlebnis, als sich die Auseinandersetzungen immer weiter hochgeschaukelt hatten: Da fand eine Mitarbeiterin, die als Wohnbereichsleitung bei uns arbeitet und auch mit einem osteuropäischen Akzent spricht, ihren Wagen mit Blut bespritzt auf dem Parkplatz wieder. An dem Punkt haben wir gesagt: Leute, das ist eine Dimension, die geht nicht. Jetzt müssen wir uns überlegen, was wir tun. Und so kamen wir auf die Idee einer täglichen Friedensandacht
Wie läuft diese Andacht ab?
Wir treffen uns jeden Tag für fünf Minuten Stille bei uns in der Eingangshalle, immer um 11.40 Uhr, vor dem Mittagessen. Wir geben immer einen Impuls zum Thema Frieden und dann sind fünf Minuten Stille. Ein Impuls kann zum Beispiel ein Satz sein wie: „das Wunder wohnt im Frieden. Und „Im Frieden blüht das Wunder“ oder „Die Kraft des Friedens ist in dir, die Kraft des Friedens ist unbegrenzt“. Manchmal ist es nur ein Satz, manchmal ist der Impuls auch ein bisschen länger. Aber es geht immer um die Frage nach dem eigenen, inneren Frieden. Es gibt immer einen Gong zur Begrüßung, dann gibt es einen Gong vor dem Impuls, dann folgen die 5 Minuten Stille. Und am Ende werden wir mit einem sanften Gong wieder zurückgeholt.
Sie sagen, es gibt keinen Frieden ohne inneren Frieden. Können Sie das etwas genauer erklären?
Es geht darum, bei sich selbst zu beginnen. Die eigenen Anteile anzuschauen, die eben noch nicht in Frieden sind. Damit haben wir ja gerade in der stationären Altenhilfe besonders intensiv zu tun. Denken Sie nur an das Sterben. Wir erleben immer wieder, dass da, wo Dinge nicht befriedet sind, die Sterbeprozesse häufig besonders herausfordernd sind.
Der eigene, innere Frieden ist existenziell für uns. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin vom Typ her ein sehr pragmatischer Mensch. Aber es ist sinnvoll, sich seine Themen genau anzuschauen. Und sich zu fragen: Woher kommen meine Aggressionen? Ein Ritual, bei dem man sich täglich auf dieses Thema besinnt, hat eine große Kraft. Auch wenn es nur fünf Minuten sind.
Wie wurde Ihr Angebot aufgenommen?
Unglaublich gut. Es kommen Bewohner, Mitarbeitende, Auszubildende, Besucher, Angehörige – eine ganz bunte Mischung. Manche Bewohner ärgern sich schon, wenn sie Termine haben, dass sie dann nicht dran teilnehmen könnte. Am Anfang haben wir uns noch gefragt: wie lange wollen wir das machen? Inzwischen denken wir, dass sich das in irgendeiner Form dauerhaft bei uns etablieren wird.
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Und welchen Effekt sehen Sie auf das angespannte Klima in Ihrem Team? Hat sich da im Laufe der Monate etwas verändert?
Ja, das ist sehr spannend. Es ist nicht so, dass alle Konflikte verschwunden sind oder jetzt totgeschwiegen werden. Der Krieg ist immer wieder ein Thema. Aber es geht nicht mehr so impulsiv und so brachial zur Sache wie am Anfang. Man geht wieder anders miteinander um. Das ist eine unglaublich schöne Beobachtung. Wichtig ist: Wir empfinden uns als Gemeinschaft. Uns alle verbindet eine Sehnen, den Frieden auszudehnen. Das ist spürbar und tut allen gut.
Interview: Kirsten Wenzel