Foto: Kirsten Gaede

Schliersee-Skandal

Whistleblowerin: Mehr Kompetenz für Heimaufsicht und MDK! 

Nach den Skandalen in den Sereni Orrizonti Pflegeheimen in Schliersee und Augsburg fordert Andrea Würtz klarere Strukturen, schnellere Entscheidungswege und mehr Unabhängigkeit für die Aufsichtsorgane    

Andrea Würtz ist Kinderkrankenpflegerin und hat als Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes während der Corona-Pandemie den Schliersee-Skandal aufgedeckt. Wie sie das angestellt hat und welche Hürden sie dabei nehmen musste, erfahren Sie im ersten Teil des Interviews mit der Whistleblowerin. Hier lesen Sie, warum die  44-Jährige das 5-Punkte-Programm des bayerischen Gesundheitsministers Klaus Holetschek für unzureichend hält.    

pflegen-online.de: Ende September wurde die Seniorenresidenz in Schliersee endlich geschlossen. Warum hat das so lange gedauert? Hat Sie das nicht frustriert?

Andrea Würtz: Mich hat am meisten frustriert, dass ich trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die Einhaltung der Dienstwege und ohne Kompetenzüberschreitung gegen diese Missstände trotzdem nicht adäquat weitergekommen bin und auch nicht ausreichend Gehör finden konnte. Gerade jetzt haben wir wieder erleben müssen, dass ein weiteres Heim des gleichen italienischen Trägers in Augsburg als Schliersee 2.0 in die Schlagzeilen gekommen ist (Anm. d. Red.: Das Augsburg Heim ist jetzt ebenfalls komplett geräumt). Diese Bezeichnung ist meines Erachtens ungeeignet, denn sie verschleiert, dass wir allein in Bayern 173 amtlich dokumentierte Heime haben, die „negativ“ aufgefallen sind. Schliersee und Augsburg sind keine bedauerlichen Einzelfälle!

Lassen Sie die Aussage im Landtag einmal sacken: 41 Kontrollen in Schliersee im Zeitraum von circa 60 Monaten - alle mit Mängeln. Und im Ergebnis teilt man mit, das Landratsamt habe richtig gehandelt und eben fleißig weiterkontrolliert. Und wer bitte trägt am Ende den Schaden? Es sind die Bewohner und eben nicht die gestressten Heimleiter, die sich darüber beschweren, dass sie ständig überprüft werden.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek hat nun nach den Schließungen der beiden Seniorenheime in Schliersee im September 2021 und Augsburg im Februar dieses Jahres einen Fünf-Punkte-Plan auf den Weg gebracht. Dazu gehören die Einrichtung einer sogenannte «Pflege-SOS-Anlaufstelle» in Bayern zur anonymen Meldung von Pflege-Missständen, schnelle Sofortmaßnahmen bei Mängeln und eine Expertenrunde zur Pflegequalität. Sind wir damit auf dem richtigen Weg?

Es geht eigentlich jetzt darum, wirklich langfristig etwas in Bewegung zu bringen und zu verändern. Das sehe ich hier nur bedingt. Wir brauchen eine gründliche Aufarbeitung des Geschehenen – aber bitte nicht nur juristisch und politisch, sondern auch gesellschaftlich und vor allem in unserem eigenen Berufsstand. Wie kann es zum Beispiel sein, dass das Pflegepersonal diese Missstände überhaupt so lange mitgetragen hat?

Es wäre hilfreich, besonders gut arbeitende Einrichtungen in einer Top-Liste zu veröffentlichen und die Kernpunkte herauszuarbeiten, warum diese Einrichtungen gut arbeiten können.

Es wäre außerdem wichtig, dass die Kontrollmechanismen von Gewerbeaufsicht, Heimaufsicht (in Bayern FQA) und MDK mit besseren und effizienteren Kontrollmechanismen und Handlungskompetenzen ausgestattet werden. Somit könnte es auch das falsche Signal sein, lediglich noch mehr Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen. Es wäre stattdessen hilfreicher, besonders gut arbeitende Einrichtungen in einer Top-Liste zu veröffentlichen und die Kernpunkte herauszuarbeiten, warum diese Einrichtungen gut arbeiten können.

Es braucht eine übergeordnete Stelle für Whistleblower auf Bundesebene. Und es nützt auch nichts, wenn diese Aufgabe Verwaltungskräfte übernehmen. Geeignet wäre eine solche Stelle nur dann, wenn dort Pflegefachkräfte, Rechtsanwälte für Arbeitsrecht, Menschenrechtler und Psychologen die Ansprechpartner wären. Dieses Team sollte in der Lage sein, die Brisanz eines dort vorgebrachten Missstandes auch einordnen zu können, um der Whistleblowerin oder dem Whistleblower dann die Unterstützung zukommen zu lassen, die tatsächlich notwendig ist – und das umgehend.

Diese Stelle sollte Sofortmaßnahmen und Handlungskompetenz im Rahmen schneller Kontrollmechanismen ergreifen können. Gleichzeitig muss es möglich sein, dass der Whistleblower weiterarbeiten kann, ohne dass er als „Nestbeschmutzer“ beschimpft wird und auch noch Sanktionen seitens des Arbeitgebers und seiner Kollegen fürchten muss – wie leider zu oft.

Welche Lehren sind aus Schliersee zu ziehen?

Bei den entscheidenden Begehungen ging es oftmals darum, ob „noch immer“ Gefahr für Leib und Leben bestehe oder eben „ein Bemühen des Trägers zur Verbesserung“ schon erkennbar sei. Eine größere Begehung nach Abzug der Bundeswehr war gegenüber dem Heim angekündigt. Der Träger wusste also Bescheid und hatte vorab die Zeit, die er brauchte. Die zum Abschied von der Bundeswehr dagelassenen Blumen in den Zimmern der Bewohner wurden bei der Begehung als „wirklich schön“ vermerkt, und ich weiß auch noch, wie mir das durch Mark und Bein ging. Zuvor hatte es noch nicht einmal notwendige Lagerungshilfsmittel oder adäquate Rollstühle für einige Bewohner gegeben. Da musste ich richtig schwer schlucken.

Das Systemversagen und die Lücken im System konnten hier in Perfektion genutzt werden. Die Pflegekassen waren die Ersten, die zunächst die Verträge aufkündigten. Das Landratsamt zog dann später nach. Insgesamt war es eine viel zu lange Zeit und der Schaden für die Menschen war furchtbar. Ich bin da nicht die Einzige, die das festgestellt hat.

Die Missstände wurden zwar erfasst und viele Protokolle geschrieben, viel in Sitzungen abgewogen, das Landratsamt erstattete richtigerweise Anzeige und aktivierte aus dem Pflegepool Bayern dringend benötigte Pflegekräfte, die aber auch den Bedarf in keinem Fall decken konnten. Die Bundeswehr rückte an, um zu helfen. Bis heute habe ich das nicht vergessen. Eine Evakuierung wäre aus meiner Sicht richtig gewesen. Im Mai 2020 vertraten einige Personen aus unterschiedlichen Bereichen, die an der Hilfe beteiligt waren, die klare Meinung, dass es das einzig Richtige und Wichtige jetzt sein würde, die Einrichtung möglichst schnell zu evakuieren.

Es waren nicht alle dieser Auffassung?

Nein, andere waren nicht dieser Meinung und sagten, die bisherige Lage „reiche noch nicht für eine Heimschließung“ und „es seien Bemühungen seitens des Trägers erkennbar“. Aber wer hat denn den Schaden und ist der Leidtragende? Es sind die Bewohner der Seniorenresidenz Schliersee. Ich wusste damals, irgendwann würden die Missstände in die Katastrophe führen. Die Entscheidung über Verantwortlichkeiten muss die Staatsanwaltschaft klären, und da das Verfahren noch nicht begonnen hat, ist es schwierig etwas dazu zu sagen.

Wie eine Pflegerin den Schliersee-Skandal aufdeckte  

Fünf Jahre dauerte es, bis die grausamen Zustände im Pflegeheim in Schliersee öffentlich wurden. Wir fragten die Whistleblowerin Andrea Würtz, warum nicht lange vor ihr Pflegekräfte, Ärzte und Behörden gehandelt haben
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Es kam dann auch tatsächlich zu einer Katastrophe, vor der Sie zuvor immer wieder gewarnt hatten: Eine Bewohnerin starb durch einen «tragischen Gewaltakt», wie es in der Todesanzeige hieß. Die Angehörigen machten den Fall über den BR öffentlich. Was war da passiert?

Eine Bewohnerin der Seniorenresidenz in Schliersee, Frau Bartonitz, wurde Anfang August 2020 von einem anderen dementen Bewohner vergewaltigt und so schwer verletzt, dass sie im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag. Das hätte sicherlich verhindert werden können, hätte man frühzeitig gehandelt. Aber auch nach diesem „bedauerlichen Einzelfall“, wie man das nannte, wurde das Heim zunächst nicht geschlossen.

Absolut schockierend. Sind es denn aus Ihrer Sicht Einzelfälle?

In den sozialen Netzwerken – und ich empfehle jedem, die Kommentare zu lesen, wird vielfach von erlebtem Leid von Bewohnern geschrieben – Berichte von verzweifelten Angehörigen, anonyme Berichte von Pflegekräften, die Missstände erlebt haben und nun an ihrem Arbeitsplatz oder überhaupt nicht mehr arbeiten können.

Warum hat man Ihnen nicht glauben wollen?

Durch den Corona-Ausbruch in der Seniorenresidenz – so schlimm das auch sicher war – und die durch das Gesundheitsamt dadurch veranlassten Reihentestungen hatten wir im Vergleich zu den anlassbezogenen oder turnusmäßigen Überprüfungen der Heimaufsicht den klaren Vorteil, hinter jede Tür schauen und jeden Bewohner sehen zu können – und das auch noch in regelmäßigen Abständen.

Während dieser Pandemie waren alle Mitarbeiter über jedes Maß belastet und in permanentem Einsatz. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass ich unter Einhaltung des Dienstweges immer sämtliche Informationen über die Seniorenresidenz Schliersee an alle relevanten Stellen weitergegeben haben. Warum die Entscheidungen von den Behörden anders getroffen wurden, als ich es mir gewünscht hätte, entzieht sich meiner Kenntnis. Es lag zu keiner Zeit in meiner Entscheidungskompetenz, das Heim zu schließen.

Sind die strukturellen Rahmenbedingungen mitverantwortlich für diese Missstände?

Entscheider, die die Möglichkeiten gehabt hätten, haben sich ihrer persönlichen Resignation und der ihrer Kollegen hingegeben und in gewohnter Manier weiter Missstände angemahnt, die Leitung ermahnt, sie erneut beraten und mit Bußgeldverfahren belegt, obwohl diese auch schon in der Vergangenheit kaum Nutzen gebracht haben.

Das System hatte sich eingefahren: 41 Kontrollen in Schliersee innerhalb von 60 Monaten – jedes Mal Mängel. Die Bewohner in diesem Heim hatten ebenfalls resigniert, was mich genauso erschrocken hat. Einige, noch rüstige, Senioren hatten sich ihrem Schicksal ergeben. Die Bedingungen sind für – sagen wir mal – „kreative“ Träger natürlich optimal, die Lücken im System auszunutzen. Ein echter Teufelskreis.

Aber warum gewährte die ARGE, die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände, zum Beispiel dem MDK nicht die entsprechenden Handlungskompetenzen, um gegen die Missstände vorzugehen?

Wir haben es hier mit einem Kollektivversagen zu tun. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum bei belegbaren „Gefahren für Leib und Leben der Bewohner“ keine schnelleren Entscheidungen ermöglicht werden können. Es wäre überhaupt ein Leichtes, diese Handlungskompetenz stärker in den Heimaufsichten und im MDK zu verankern und zwar über die üblichen Protokolle hinaus. Sie müssen umgehende Maßnahmen ergreifen können. Stattdessen werden Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. Es wird abgewogen. Es folgen eine vorübergehende Entrüstungswelle in der Öffentlichkeit und viele anonyme Hinweise von Pflegekräften, die solche Zustände auch anderswo erleben. Und mehr passiert nicht. Der MDK dokumentiert alles bestens, am Ende wird aber verwaltet und nach einer gewissen Zeit eine erneute Prüfung angeordnet.

Meines Erachtens bleibt eigentlich nur noch eine Erklärungsvariante übrig, die kollektive Sorge „Wohin mit unseren Alten“, mit anderen Worten: „Besser ein schlechtes Heim als gar kein Heim“.

Ist das der Grund, warum wir auch gewinnorientierte Konzerne walten lassen, weil sie die Arbeit der öffentlichen Gesundheit und Pflege übernehmen?

Der demographische Wandel ist Fakt und ein unbeliebtes Thema, bei dem ein echter Reformwille auch zuletzt bei Herrn Spahn nicht erkennbar war. Deshalb bleibt eine höchst unangenehme und doch so spannende Auseinandersetzung mit der Frage „Welche Wertigkeit haben die älteren Menschen in unserer Gesellschaft, Menschen, die unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut haben?“ Warum müssen sie – wie ich es teilweise in Schliersee auf schlimmste Art und Weise erleben musste, ihre Würde und ihre Menschenrechte abgeben und dafür auch noch Geld bezahlen? Das ist doch Irrsinn!

Das bayerische Pflege- und Wohnqualitätsgesetz beschreibt doch ganz klar unter Artikel 1, Absatz 1 den Zweck des Gesetzes, nämlich „die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse pflege- und betreuungsbedürftiger Menschen als Bewohnerinnen und Bewohner stationärer Einrichtungen und sonstiger Wohnformen im Sinn dieses Gesetzes vor Beeinträchtigung zu schützen, die Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sowie die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner zu wahren und zu fördern“. Und unter Punkt 6 heißt es weiter: „Die Einhaltung der dem Träger gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern obliegenden Pflichten zu sichern“ – aus meiner Sicht ein klarer Auftrag, um eben die Konzerne nicht „walten“ lassen zu können. Auch die „Verteufelung“ der Privatisierung kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein – denn, die Unterversorgung im Bereich der ambulanten und stationären Pflegeplätze ist ja jetzt schon prekär und faktisch nicht neu.

Wenn ein italienischer Heimbetreiber sogar im eigenen Land wegen Missständen aufgefallen ist und dann – trotz Schliersee und Augsburg – auch noch in Deutschland weiter expandieren will, wie kann es sein, dass dieser und ähnlich arbeitende Betreiber nicht grundsätzlich genauer in Augenschein genommen werden – bundesweit?

Es fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Der Föderalismus schafft viele Spielräume für die Konzerne. Jedes Bundesland und jeder Landkreis kocht da ein eigenes Süppchen, und natürlich spielt auch die Unterbesetzung der Ämter eine Rolle. Hätte die Heimaufsicht übergeordnete Funktionen und würde zum Beispiel in wechselnden Teams agieren, könnte das viele Vorteile gegenüber der verbreiteten „Betriebsblindheit“ bringen. So ist es auch, wenn der Träger gleich ist, aber Einrichtungen an verschiedenen Standorten besitzt. Es ist aus meiner Sicht ein fataler Fehler. Hier bräuchte es dringend einen übergreifenden Austausch.

Es geht nicht darum, alle Pflegeheimbetreiber unter Generalverdacht zu stellen. Wenn aber, wie im Fall Schliersee, über den italienischen Pflegeheimbetreiber „Sereni Orizzonti“, sogar noch nachzulesen ist, dass in Heimen in Italien ebenfalls schwere Verstöße festgestellt worden sind, dann kann es doch nicht sein, dass dieser Konzern in Deutschland nicht stärker kontrolliert wird! Da muss doch umgehend gehandelt werden! Im Rahmen der Digitalisierung brauchen wir eben auch eine stärkere Vernetzung zwischen den Heimaufsichten benachbarter Landkreise und auch zwischen den Bundesländern.

Würden alle Pflegefachkräfte in einem Heim, in dem Missstände aufgefallen sind, gemeinsam aufstehen und sagen ,Das können wir so nicht mehr verantworten’, dann könnte das Heim so nicht weitermachen.

Es muss also auf Bundesebene gehandelt werden?

Richtig. Wichtig aber ist mir auch zu betonen, dass nicht die Politik allein dieses Systemversagen verursacht hat. Sie könnte aber die Rahmenbedingungen für die derzeitigen Kontrollmechanismen ändern. Sie sollte dafür sorgen, dass sowohl die Fälle in Schliersee als auch in Augsburg parteiübergreifend und aufrichtig aufgearbeitet werden. Auch das Personal könnte viel mehr Druck machen, was beobachtete Missstände angeht: Würden alle Pflegefachkräfte in einem Heim, in dem Missstände aufgefallen sind, gemeinsam aufstehen und sagen „Das können wir so nicht mehr verantworten“, dann könnte das Heim so nicht weitermachen. Denn wer sind bei all dem die Leidtragenden, wenn die eigentlichen Ursachen nicht behoben werden.

Ich frage mich aber auch: Wo sind die Menschenrechtsorganisationen? Wo waren die Mahnwachen gegen das Leiden der Bewohner in Schliersee und Augsburg? Wo bleibt der anhaltende Aufschrei der Gesellschaft, wenn das Entsetzen nach den Schlagzeilen in den Medien wieder verklungen ist? Und wo ist der Berufsstand der Pflege, der sich geschlossen aufstellt und deutlich macht: Stopp! So geht es nicht weiter! Diese Hoffnung habe ich noch nicht aufgegeben. Es lohnt sich eben, nicht nur für jene Menschen weiter zu machen und die nötigen Veränderungen anzustoßen, die in Schliersee gelitten haben und gestorben sind. Die Frage bleibt auch im Raum: Was ist mit all jenen Bewohnern, die aufgrund des derzeitigen, übergeordneten Systemversagens mit allen daran Beteiligten gerade in diesem Moment Schaden erleiden?

Konnten Sie bislang bei Politikern für Sie befriedigende Akzente setzen?

Im November letzten Jahres war ich als Gast im Landtag geladen und Zeugin eines politischen Frage-Antwort-Spieles – so muss ich es leider bezeichnen. Erst sollte das in Schliersee ein bedauerlicher Einzelfall gewesen sein. Dann wird – mit amtlicher Kenntnis – veranlasst, dass 15 Bewohner nach der Schließung von Schliersee in das – wohlgemerkt vom gleichen Betreiber betriebene Heim – nach Augsburg verlegt werden. Und, wen wundert’s, vier Monate nach der Schließung in Schliersee, erfolgt schon die nächste Welle der Entrüstung, als – nach der Ausstrahlung von Team Wallraff’s Undercover-Einsatz am 19. Februar 2022 – das Augsburger Heim ebenfalls geschlossen wurde, da die Versorgung der Bewohner nicht mehr sichergestellt werden konnte. Auch hier war der Auslöser ein Corona-Ausbruch und die Tatsache, dass der Träger nicht mehr ausreichend Pflegekräfte stellen konnte, um die Bewohner zu versorgen.

Deshalb: Am 27. März 2021 hieß es schon einmal von Seiten des bayerischen Gesundheitsministers Klaus Holetschek im BR, er wolle die Heimkontroll-Systeme prüfen. Und wieder ist viel Zeit ins Land gezogen. Nun, nach Augsburg, will er mit einem 5-Punkte-Plan gegen Missstände angehen. Es klingt nach einem Anfang – es müsste aber sofort gehandelt werden.

Was wäre Ihr 5-Punkte-Plan damit sich solche Missstände, wie in Schliersee und Augsburg, nicht wiederholen können?

  1. Es braucht unbedingt Anpassungen bei der Heimaufsicht: Sie muss personell stärker und auch anders aufgestellt werden. Auf keinen Fall sollte ihr Platz im Landratsamt sein, sondern übergeordnet angesiedelt sein. Der Wechsel der Teams – wie beim MDK etwa – könnte zu einem differenzierteren Blick bei der Begutachtung führen. Dann sollten die Hürden bei anlassbezogenen Überprüfungen nach Eingang der Beschwerde – wie zum Beispiel durch einzuholende Einverständniserklärungen und Information des Heimes mit entsprechend langen Fristen zur Stellungnahme – reduziert werden, um eine schnellere Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Zudem sollte die Heimaufsicht stärker mit erfahrenen Pflegefachkräften ausgestattet sein, die Beschwerden besser nach Dringlichkeit einstufen können. Und natürlich braucht es eine Anpassung der bisher definierten Handlungskompetenzen.
  2. Es braucht eine stärkere Kontrolle im Bereich der Privatisierung von Heimen. Es darf nicht mehr zugelassen werden, dass Konzerne nach Feststellung von Missständen, durch eine Klaviatur an „Trägerwechsel“, „Wechsel der Pflegedienstleitungen“ und so weiter die Aufklärung hinauszögern und sanktionslos so weitermachen können, wie bisher.
  3. Wir brauchen eine echte Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel und der Frage, wie wir in Deutschland mit dem Thema Pflegebedürftigkeit umgehen wollen. Wir müssen die kollektive Sorge «Wohin mit unseren Alten» ernst nehmen und darüber diskutieren, wie wir damit umgehen wollen.
  4. Wir benötigen eine grundlegende Pflegereform und nicht nur einen «kleinsten gemeinsamen Nenner». Die Pflegefinanzierung muss neu organisiert werden unter stärkerer Berücksichtigung der pflegenden Angehörigen.
  5. Whistleblower müssen mehr Stärkung und Schutz erfahren. Dafür braucht es nicht nur ein entsprechendes Gesetz, sondern auch die Schaffung einer übergeordneten, unabhängigen Ombudsstelle, an die sich Whistleblower – ob Pflegekräfte, Bewohner oder Angehörige – wenden können.

Was sollte sich bei den Heimkontrollen ändern?

Es würde aus meiner Erfahrung schon viel helfen – so wie im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes, wirklich „hinter jede Tür“ schauen zu können – auch bei anlassbezogenen Überprüfungen. Ich meine damit nicht ein „Big-brother-is-watching you“. Von einer angekündigten Überprüfungen bis zur Aufforderung einer schriftlichen Stellungnahme vergeht viel zu viel Zeit. Würde sich eine Überprüfung über einen längeren Zeitraum erstrecken, wäre es nicht mehr ganz so einfach eine Situation im Heim vorzutäuschen, die nicht den tatsächlichen Alltag widerspiegelt.

Würde sich der MDK bei ambulanten Pflegediensten zum Beispiel nicht jedes Mal 24 Stunden vorher ankündigen, wäre es auch nicht möglich, Dokumente und Akten vorher noch zu frisieren, und die Realität würde klarer zum Vorschein kommen. Ob Pflegepläne und Qualitätsmanagement tatsächlich mit Leben gefüllt sind, kann so manche Überprüfung derzeit überhaupt nicht verifizieren. So handelt es sich in der Dokumentation viel zu häufig um das Vorspielen falscher Tatsachen, und das muss sich umgehend ändern.

Interview: Melanie M. Klimmer

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Über Andrea Würtz

Die Kinderkrankenschwester, Jahrgang 1977, hat im Mai 2020 die Missstände in der Seniorenresidenz in Schliersee aufgedeckt. Damals war sie für das Gesundheitsamt tätig, wo sie Ende Juni 2020 kündigte. Seit Ihrem Examen im Jahr 2001 hat sie viele Bereiche im Gesundheitswesen kennengelernt, darunter die ambulante Kinderintensivpflege, die Arbeit im Frühchen-IMC, in der OP-Anästhesiepflege und als Study Nurse im Bereich Onkologie. Außerdem war sie PDL in der Tagespflege und Hygienebeauftragte. Seit Schliersee kämpft sie gegen Missstände in der Pflege an.

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Foto: privat
Andrea Würtz

TV-Beiträge über die Sereni-Orrizonti-Heime in Schliersee und Augsburg 

Skandalheim Schliersee: Die Spuren nach Italien | report München | BR24 (29.4.2021): „Skandalheim Schliersee - Nur die Spitze des Eisbergs?“

RTL I Wallraff Untercover I (19. 2. 2022): Das würdelose Geschäft mit alten Menschen

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