Eine Patientin stirbt bei einer als unkompliziert angekündigten Geburt; ein Patient wird eine Stunde reanimiert und kann am Ende doch nicht gerettet werden; ein Bewohner, zu dem das Team über zwei Jahre echte Zuneigung aufgebaut hat, stürzt und verblutet. Es gibt kaum eine Pflegekraft, die nicht mindestens ein aufrührendes Ereignis dieser Art erlebt hat. Doch wer in Klinik oder Pflegeheim plötzlich in seelische Not gerät, steht oft alleine da. Einzelne Kliniken wie die Unikliniken in Bonn, Jena und Augsburg, die München Kliniken oder die Schön Klinik Gruppe gehen voran – doch ein Angebot von psychosozialer Unterstützung in Krisensituationen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Belastungssituationen ist bis heute nicht Standard.
Was aber können Pflegekräfte tun, wenn sie eine seelisch stark belastende Situation erleben? Der Münchner Verein PSU-Akut unterstützt seit 2013 mit seinem kostenlosen Krisentelefon an sieben Tagen in der Woche und speziellen Schulungen. Gegründet wurde PSU (Psychosoziale Unterstützung) von Münchner Ärzten, zunächst mit der Absicht der Selbstfürsorge. Inzwischen gibt es eine PSU-Helpline, die von etwa 40 ehrenamtlichen Mitarbeitern unterhalten wird. Hier können Betroffene, wenn sie möchten, völlig anonym und frei vom eigenen Kliniksetting mit geschulten Fachkollegen über ihre Probleme sprechen“, sagt Andrea Forster, Projektleiterin von PSU München.
PSU-Akut ist auch für Physiotherapeuten und Reinigungskräfte da
Das Angebot richte sich bewusst an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen. „Ärzte und Ärztinnen, Pflegekräfte, aber auch das Reinigungspersonal, Physio- und Ergotherapeuten. Es ist uns immer wichtig, dass wir hier niemanden vergessen“, so Andrea Forster. Mancher mag einwenden, dass es ebenso hilfreich sein könne, mit Kollegen vor Ort zu sprechen. „Aber Krisengespräche mit Kollegen aus dem direkten beruflichen Umfeld können zum Beispiel auch wegen Konkurrenzverhältnissen mitunter schwierig sein.“ Besonders dann, wenn die Krisensituation durch eigene Fehler eingetreten ist, etwa eine falsche Medikamenten-Applikation.
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„Viele tragen Belastendes oder ungute Bilder mit sich herum“
Bis heute seien die Themen Überforderung, psychische Belastungen und Scheitern im Gesundheitswesen tabuisiert und mit Scham und Schuldgefühlen verbunden, meint Andrea Forster. „Als Klinikpersonal lebt und verkörpert man die Idee: Wir müssen immer stark und für alle da sein. Aber zum medizinischen Berufsalltag gehören bei aller Sorgfalt nun einmal auch traumatische Momente wie tragische Todesfälle, frustrane Reanimationen, Gewalt oder Situationen mit Patientenschädigung oder Situationen, die einem Behandlungsfehler sehr nahe kommen. Auch wenn wenig darüber gesprochen wird, tragen viele doch Belastendes oder ungute Bilder im Kopf mit sich herum. Dafür braucht es die richtige und zeitnahe psychosoziale Versorgung. Kollegiale Unterstützung in einem geschützten Raum.“
Für manche Themen seien dabei wirklich Fachkollegen wichtig, die genau verstehen, was einem Bauchschmerzen bereitet. Wenn fachliches Verständnis auf Augenhöhe nötig ist, vermittelt der Verein die passenden Gesprächspartner. „Andererseits sind wir sehr interdisziplinär aufgestellt und erleben oft, dass erfahrene Pflegekräfte, die in hochsensiblen Bereichen mit den Ärzten oft ja Hand in Hand arbeiten, kritische Situationen gut nachvollziehen und durchaus auch für Ärzte in Not als entlastendes Gesprächsgegenüber fungieren können.“
PSU: Ein Peer für psychosoziale Gesundheit in jeder Klinik!
Gleichzeitig setzt sich der Verein seit Jahren für mehr psychosoziale Beratungskompetenz unter Kollegen in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen ein – und hat dafür in einem eigenen Trainingsprogramm in den letzten Jahren mehr als 200 sogenannte „Peers“ ausgebildet. „Peers“ sind Kollegen mit Krisenkompetenz in der eigenen Klinik. „So wie es einen Gerätebeauftragten gibt und jemanden, der für Hygiene zuständig ist, sollte es auch in jeder Klinik und Pflegeeinrichtung Personen geben, die für die psychosoziale Gesundheit der Mitarbeitenden zuständig sind. Jemand der weiß, was zu tun ist, wenn ein schwerwiegendes, tragisches Ereignis passiert. Peers können die Betroffenen auf geeignete Weise ansprechen und auffangen und im Bedarfsfall weitere Unterstützung anfordern.“
In der insgesamt fünftägigen Peer-Ausbildung vermittelt der Verein psychosoziale Kompetenzen wie Krisenkommunikation, Selbstschutz, Stressbewältigung und Coping-Strategien. „So erhalten die Personen für sich selbst ein Rüstzeug, um besser mit schwerwiegenden Ereignissen und Belastungssituationen umzugehen. Und sie lernen, diese Kompetenzen an die Fachkollegen weiterzugeben.“
Der Weg zu einer flächendeckenden Versorgung in den deutschen Einrichtungen sei leider noch weit, bedauert Forster, was nicht zuletzt an den zusätzlichen Kosten für so ein Angebot scheitere. „Gerade für kleinere Häuser ist die komplette Implementierung eines Peer-Systems wegen der knappen Personaldecke oft zu teuer. Deswegen ist es so wichtig, unser dezentrales Angebot zu kennen und zu nutzen.“
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Auch die Divi ist am Thema Krisenintervention dran
Neben PSU-Akut beschäftigt sich auch noch die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) mit der fehlenden Krisenintervention in deutschen Kliniken. Sie plant ein bundesweites Netzwerk für klinische Krisenintervention. Doch bisher sei, so Sprecherin Teresa Deffner, insbesondere die strukturelle Ebene und die Verbindlichkeit und Finanzierung noch nicht geklärt.
So erreichen Sie die Helpline PSU Akut
PSU-Helpline – Kollegiale Unterstützung bei besonderen Belastungssituationen und schwerwiegenden Ereignissen im Gesundheitswesen täglich von 9 bis 21 Uhr erreichbar unter 0800 0 911 912; https://psu-helpline.de/
Autorin: Kirsten Wenzel