pflegen-online: Frau Ohlerth, Sie arbeiten seit 30 Jahren in der Altenpflege: Haben sich die Arbeitsbedingungen in dieser Zeit verschlechtert?
Eva Ohlerth: Ja, kontinuierlich. Die Arbeitsdichte nimmt stetig zu. 200 bis 400 Überstunden sind keine Seltenheit. Aufgrund des erheblichen Personalmangels und der damit verbundenen, wachsenden Arbeitsdichte kann keine gute, menschenwürdige Pflege mehr gewährleistet werden. Selbst „trocken – sauber – satt“ ist nicht mehr zu gewährleisten. Die Menschen werden abgefertigt. Die psychische und körperliche Gesundheit der Bewohner erfährt nicht die benötigte medizinische Betreuung. Das soziale Wohlbefinden leidet aufgrund mangelnder Kommunikation. Mit menschenwürdiger Pflege hat dies alles nichts mehr zu tun.
Teilhabe ist ein Menschenrecht und selbst dieses wird alten Menschen verwehrt, indem man nicht-deutschsprachiges Personal einstellt. Und nach dem Motto „Pflegen kann jeder!“ werden Menschen in Crashkursen mit 188 Unterrichtsstunden für die Pflege „qualifiziert“, Schüler und Schülerinnen als vollwertige Pflegekräfte missbraucht. Viele haben nicht einmal mehr eine Praxisanleitung. Bewohner und Angehörige haben Angst vor Repressalien und halten sich zurück – eine Schande, dass alte Menschen im letzten Lebensabschnitt Angst vor uns Pflegekräften haben müssen!
Sind dies Einzelfälle?
Leider ist diese Art der „Versorgung“ und des Umgangs mit alten Menschen kein Einzelfall. Es gibt gute Pflegeheime, die mit den gleichen finanziellen Mitteln eine weitaus bessere Versorgung sicherstellen und kaum Personalmangel haben. Sie setzen geschulte Führungskräfte ein, die auf Augenhöhe mit den Bewohnerinnen, Bewohnern und Pflegepersonal arbeiten. Diese Tatsache bestätigt: Der Pflegenotstand ist hausgemacht!
Sie haben sich wiederholt gegen Missstände gestellt. Wie haben Ihre Kolleginnen und Kollegen reagiert?
Wie ein roter Faden zieht es sich hindurch: Ich erlebte Mobbing, weil ich gut pflegen wollte und die Bedürfnisse der Bewohner ernst nahm. In der Pflege arbeiten leider auch immer wieder Menschen, die ihre Macht gegenüber den ihnen anvertrauten Heimbewohnern missbrauchen.
Ich kam einmal neu auf eine Pflegestation, auf der sich ein Team geschlossen gegen eine Bewohnerin stellte, da diese deren Ansicht nach zu oft läutete. Sie sei verwöhnt. Man müsse sie läuten lassen, bis sie bemerkt, dass da keiner kommt und sie dann resigniert, so erklärte man mir. Für mich war diese Aufforderung nicht tragbar. Weil ich aber trotzdem zu ihr ging, erklärte man, dass ich nun immer zu meinem „auserwählten Liebling“ gehen müsse, den ich da verwöhne.
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Gab es noch andere Situationen?
Häufig habe ich erlebt, dass Pflegepersonal die Zimmerglocke von Bewohnern einfach zog oder diese für die betreffende Person unerreichbar anbrachte, nur um Ruhe zu haben. Täglich erlebte ich es, dass Seniorinnen und Senioren, die darum baten, zur Toilette gehen zu dürfen, aufgefordert wurden, in ihre Einlage zu urinieren oder einzukoten. Wenn ich mich dann in Teamsitzungen gegen diese Gewalt einsetzte, bekam ich postwendend Gegenwind und man ließ mich spüren, dass Kritik unerwünscht sei. Man sagte einfach, ich sei zu sensibel für den Beruf.
Ich habe es als sehr belastend empfunden, unter diesen Umständen zu arbeiten und immer als Einzelkämpferin dazustehen. Hinter vorgehaltener Hand gab man mir Recht, doch in Teamsitzungen schwiegen alle. Gerade dieses schreckliche Schweigen hält das Leid der Senioren aufrecht! Selbstverständlich gibt es auch engagierte, kritische Pflegekräfte. Doch diese werden von den eigenen Kollegen als Nestbeschmutzer beschimpft und man macht ihnen das Leben schwer, bis sie krank werden oder kündigen.
Haben Sie von Ihren Vorgesetzten Rückenstärkung erfahren?
Im Gegenteil. Unterstützung von Vorgesetzten habe ich nie erfahren. Auch musste ich immer wieder miterleben, wie engagierte Mitarbeiter von Führungskräften und eigenen Kollegen gemobbt wurden, wenn sie die menschenverachtenden Praktiken nicht unterstützen wollten. Um gegen Missstände vorgehen zu können, braucht es aber fähige und keine willfährigen Leitungen.
Warum engagieren Sie sich trotz dieser Widerstände?
Ich kämpfe für die alten Menschen, die keine Stimme, keine Angehörigen oder sonstige Menschen an ihrer Seite haben, die sich für ihre Würde einsetzen. Der Gedanke, dass wir diese Menschen im Stich lassen, lässt mir keine Ruhe. Aus meiner jahrelangen Arbeit in der Pflege kann ich ihre Gesichter nicht vergessen, da ich ihre Geschichte kenne und ich ihr Leid gesehen habe.
Spielt Mobbing unter Pflegekräften sowie Gewalt im Umgang mit Schutz- und Hilfebedürftigen Ihrer Meinung nach eine Rolle für den enormen Fachkräftemangel in der Pflege?
Pflegekräfte verlassen nicht ihren „Beruf“, sondern sie verlassen skrupellose Heimbetreiber, schlechte Arbeitsbedingungen und unfähige Vorgesetzte. Dass der Fachkräftemangel hausgemacht ist, wollen viele nicht hören, weil sie dann etwas verändern müssten.
Es gibt Arbeitgeber, die uns Zeitverträge geben, damit unser Gehalt nicht steigen kann und man uns schneller wieder loswird, wenn von uns jemand Kritik übt. Fachkräfte, die ihre Rechte kennen, sind ihnen ein Dorn im Auge. Fachkräfte sind ihnen zudem zu teuer. Man nimmt lieber Ungelernte gegen einen lächerlichen Mindestlohn und man kann sie leichter manipulieren und ausbeuten. Es bilden sich keine Teams mehr und damit gibt es auch wenig Zusammenhalt. Und wer sich dann gegen illegale Handlungen stellt, muss mit Mobbing rechnen.
Man schikaniert diese Pflegekräfte, verbreitet Lügen über sie, konfrontiert sie mit Anschuldigungen, die an den Haaren herbeigezogen sind und unterstellt den Aufmüpfigen, die Überlastungsanzeigen schreiben, private oder psychische Probleme oder eine Suchterkrankung. Solange schlechte, ja kriminelle, Pflege lukrativ bleibt und ihr die Motivation nicht entzogen wird, wird sich an diesem Fachkräftemangel nichts ändern.
Was empfehlen Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen?
Mein Appell: Wehrt euch! Macht Missstände öffentlich! Und wenn ihr euch nicht traut, dann hindert diejenigen nicht, die sich trauen! Alle Power der Pflegekräfte muss jetzt in den Boykott der entwürdigenden Arbeitsbedingungen gesteckt werden. Lasst euch von Politikern und Gesellschaft nicht weiterhin totloben!
Es ist Fakt: Unter den jetzigen Bedingungen kann es gute Pflege nicht geben. „Ihr seid Heldinnen“, „ihr leistet gute Arbeit“, lobt man uns. Damit will man uns doch nur zum Schweigen bringen! Es gibt keine Rettung von außen. Sie kann nur von uns selbst kommen. Rüttelt die Gesellschaft auf und konfrontiert sie mit der schonungslosen Wahrheit! Lasst unsere Alten wieder in der ersten Reihe stehen – sie sind die Opfer, nicht wir Pflegekräfte!
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Eva Ohlerth
Die Altenpflegerin, Jahrgang 1959, lebt in München und arbeitet seit 30 Jahren in unterschiedlichsten Einrichtungen in Deutschland und augenblicklich in der außerklinischen Intensivpflege. Mit TV-Auftritten in Talk-Runden und ihrem aktuellen Buch „Albtraum Pflegeheim“ (Oktober 2019, Riva Verlag) kämpft Eva Ohlerth seit Jahren nach eigenen Aussagen gegen die Gleichgültigkeit im Umgang mit den Missständen in Pflegeeinrichtungen.
Interview: Melanie Klimmer