Eine fast blinde, schwerhörige, aber kognitiv kaum eingeschränkte, alte Dame zieht in ein Seniorenheim ein. Dort wird sie in einem abgelegenen Zimmer untergebracht, wo selten eine Pflegekraft vorbeikommt. Sie sitzt oft stundenlang da, weiß sich nicht zu orientieren und adäquat zu beschäftigen. Am Ende irrt sie im Zimmer und auf dem Flur umher, entwickelt Panikzustände und wehrt sich schließlich verzweifelt um Hilfe rufend gegen die Hände, die sie ins Zimmer zurückbringen wollen.
Dies ist vor zwei Jahren in einem Seniorenheim in Bayern geschehen. Das Verhalten der eigentlich orientierten Bewohnerin lässt sich leicht erklären: Die leeren Batterien ihres Hörgerätes sind tagelang nicht ausgewechselt worden. Aber ohne Hörgerät kann sich die fast blinde Frau nicht selbstständig orientieren. Ob Brille, Lupe, Hörgerät, Rollator, Prothesen oder Möbel mit Festhaltegriffen – sie sind für Menschen mit Einschränkungen unerlässlich, um sich im Alltag sicher und selbstständig zurechtzufinden. Werden sie nicht in einem funktionierenden, ordentlichen Zustand bereitgestellt, kann das zu Deprivationen führen.
Deprivation: immer die gleichen Reize, keine Ansprache
Was genau bedeutet Deprivation? Es handelt sich im weitesten Sinne um den Verlust oder die Entbehrung von etwas, das eine große Bedeutung in unserem Leben gehabt hat. Deprivation kann alle Bereiche des Lebens betreffen, insbesondere die Gesundheit.
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Besonders gefährdet sind Menschen, die
- über lange Zeit keine Ansprache haben
- den immer gleichen Reizen ausgesetzt sind
- unter sozialen, emotionalen, mentalen, körperlichen Entbehrungen leiden, weil ihnen ein Handicap, der Verlust oder die Abwesenheit von vertrauten Menschen oder die soziale Ausgrenzung durch andere Einschränkungen auferlegen
- bereits alters- oder krankheitsbedingt Einschränkungen im Bereich ihrer Sinne haben und auf Hilfsmittel wie Hörgerät, Brille und andere Sehhilfen angewiesen sind
- unter Mobilitätseinschränkungen leiden und für Außenkontakte, zur Mobilisation, zum Lagewechsel im Bett Unterstützung benötigen
- wenig soziale Ansprache, ein verarmtes, soziales Umfeld, traumatische Erfahrungen oder psychische oder körperliche Gewalterfahrungen gemacht haben
- Orientierungsstörungen haben, zum Beispiel Menschen mit Demenz oder Patienten, die häufiger verlegt worden sind. Orientierungsstörungen treten auch dann auf, wenn Geschehnisse nicht eingeordnet werden können, aber gehört und wahrgenommen werden.
1. Hilfsmittel überprüfen
Wenn Patienten oder Bewohner ihre Hilfsmittel nicht nutzen, ist es immer ratsam zu fragen: Warum nicht? Vielleicht ist die Brille kaputt, die Sehstärke nicht mehr ausreichend? Ist die Batterie im Hörgerät vielleicht leer? Und wie lässt sich umgehend Abhilfe schaffen? Ist der Klettverschluss zum Anbringen der Prothese abgegriffen? Kann das Pflegeteam vielleicht mit den Angehörigen vereinbaren, regelmäßig neue Batterien zu beschaffen, Ersatz zu besorgen? Und wenn es keine Angehörigen gibt, die kooperieren können oder wollen: Wer organisiert die Reparatur, wer den Nachschub?
Was neben einer guten Versorgung mit Hilfsmittel außerdem wichtig für die Deprivationsprophylaxe ist:
2. Bezugspflege
Gerade in Einrichtungen, in denen sich Patienten längere Zeit aufhalten (müssen), zum Beispiel nach einem schweren Unfall, bei einer intensivpflichtigen Corona-Infektion oder in einer Einrichtung der Altenhilfe, brauchen Patienten oder Bewohner konstante Bezugspersonen aus der Pflege, zu denen sie Vertrauen aufbauen können. Bezugspersonen sind gerade für diese Menschen sehr wichtig und deshalb nicht beliebig ersetzbar – etwas, das in der Funktionspflege oft nicht berücksichtigt wird.
Auch anderen Bezugspersonen sollte der Kontakt stets möglich bleiben. Themen wie die „alte, neue Liebe“ zuzulassen, Alter und Krankheit nicht hinter Türen verschwinden zu lassen, sondern einen offenen Umgang zu pflegen, bei Menschen mit Demenz die Enkelkinder einzubeziehen, auch wenn Veränderungen stattfinden, die gesetzlichen Betreuer häufiger zu involvieren – all das sollten die Teams in den Einrichtungen offen diskutieren.
3. „Nahrung“ und Anregung für die Nervenzellen im Gehirn
Das Gehirn ist überwiegend ein soziales Organ und der richtige Kontakt Nahrung für das Gehirn. Deshalb ist es wichtig, dass Pflegekräfte sich überlegen, wie sie ihre Bewohner dabei unterstützen können, Kontakte aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben, sofern sie das möchten.
Das ist nicht einmal schwer: Jeder Bewohner eines Seniorenheimes hat ein Adressbuch, Menschen, die ihm oder ihr nicht aus dem Kopf gehen, die mit einer Sehnsucht verknüpft sind. Sprechen Sie darüber. Vielleicht lässt sich ein Kontakt herstellen? Und wo diese nicht mehr möglich sind, spielt die Bezugspflege eine umso wichtigere Rolle.
Sie kann Patienten und Bewohnern Orientierung geben, dabei helfen, Erlebtes zu verarbeiten und sich sicher zu fühlen. „Das Gehirn braucht emotional anregende Sinneswahrnehmungen, um überhaupt Verknüpfungen herzustellen, und das geht am besten in emotional anregenden Kontakten“, sagt Prof. Dr. Manfred Spitzer, Ulm. „Ja, es ist die ganze Breite und Tiefe des Lebens, die unsere Nervenzellen lebendig erhält. Ich rate immer dazu, statt auf Gehirnjogging zu setzen, lieber öfter Umgang mit den Enkelkindern und Kindern generell zu pflegen. Sie sind beliebig kompliziert und fordern ständig auf immer neue Weise heraus: Provokationen, Meinungen, Witze, Überraschungen, Fragen und Bewegungsanregungen – das regt vor allem emotional an.“
4. Immer gleiche Reize vermeiden, den Menschen nie aufgeben
Immer die gleiche Unterlage, immer der gleiche Blick, immer dieselbe Wand, dieselbe Stille, die gleichen Heizungsgeräusche oder auch die Reizflut mit dem immer gleichen unbehandelten Dauerschmerz, dieselbe Radio- oder TV-Dauerbeschallung - es kann die Hölle sein! Wie kann ein Mensch, der auf Hilfe angewiesen ist und sich nicht bemerkbar machen kann, dieser Situation entweichen? Erklärt das die Unruhe, die Verwirrtheitszustände von manchen isoliert lebenden Menschen? Die Abstumpfung, Erstarrung, den inneren Rückzug? Schließlich ist Isolation in vielen Ländern eine praktizierte Foltermethode.
Wie aber lässt sich für Ablenkung sorgen? Ein einfaches Fallbeispiel: Eine ältere Dame aus einem Seniorenheim, war beim Friseur. Der hat ihre Haare schön gemacht. Die Pflegekräfte haben ihr am Morgen noch bei der Körperpflege geholfen. Sie trägt ihr bestes Kleid. Jetzt fühlt sich die Dame so wohl und motiviert, dass sie trotz ihrer Bewegungseinschränkungen mit ihrem Rollator bis zum nächsten Eiscafé in der Stadt läuft. Dabei lacht und spricht sie mit Fremden.
5. Weitere mögliche Anregungen
- Heimfahrten ermöglichen
- Gestaltung des Zimmers mit Gegenständen und Fotos, zu denen die Menschen einen persönlichen Bezug haben, zum Beispiel Fotos und gemalte Bilder von Enkeln
- Vertraute Geräusche aus dem Garten daheim aufnehmen lassen und abspielen, wenn jemand bettlägerig oder auf der Intensivstation ist
- Beeren aus dem Garten von zu Hause mitbringen lassen
- Das Bett beim Lagern in die Mitte des Raumes stellen, damit die Person von verschiedenen Seiten Kontakt haben kann und nicht immer von der gleichen Seite
- Patienten nach Schlaganfall von der gelähmten Seite her ansprechen, damit sie wieder Kontakt zu der fremdgewordenen Seite bekommen.
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6. Bei anhaltender Apathie: Medikamenten-Check!
Die Nebenwirkungen einiger Medikamentenwirkstoffe haben negativen Einfluss auf die Mitteilungsfähigkeit des Patienten oder Bewohners. „Klassische Neuroleptika können die Mitteilungsfähigkeit erschweren, die geistige Aktivität, die Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit sowie die Fähigkeit, konstruktiv zu reagieren, dämpfen“, sagt Dr. Bernd Meißnest, Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie am Klinikum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Gütersloh im Interview. „Bis dahin noch erkennbare Ressourcen eines Menschen, zum Beispiel mit einer Demenz, werden durch äußere Reize nicht mehr erreicht.“
Autorin: Melanie Klimmer
Die Autorin Melanie Klimmer ist Ethnologin M.A., Klinische Soziologin, examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, Pflegeberaterin und Supervisorin. Sie arbeitet heute überwiegend als freie Wissenschaftsjournalistin, Reporterin, Autorin und Dozentin (Universität) zu internationalen, gesundheitspolitischen Themen. (Kontakt: atelier.fuer.publizistik@gmail.com).