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Foto: Maren Schlenker

Sexuelle Belästigung

„Weisen Sie Patienten klar in ihre Schranken!“

Auch wenn Patienten oder Bewohner hilfsbedürftig sind: Sexuelle Belästigung sollte sich keine Pflegekraft gefallen lassen, sagt Sabine C. Jenner, dezentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte am Universitätsklinikum Charité Berlin

„Ach du schon wieder! Kaum guckt dich jemand an, denkst du an sexuelle Belästigung“, mit Kommentaren wie diesem werden Frauen mitunter konfrontiert, die sich über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beklagen. Mehr Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen in solch einer Situation wünscht sich Sabine C. Jenner, dezentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte am Universitätsklinikum Charité Berlin.

pflegen-online: Frau Jenner, können Sie kurz Ihre Studie beschreiben?

Sabine C. Jenner: Wir haben eine große quantitative und qualitative Befragung unter Ärztinnen und Ärzten und Pflegepersonal durchgeführt. Vom Pflegepersonal haben beim quantitativen Studienteil rund 200 Personen teilgenommen. Das waren leider zu wenige, sodass die Studie für das Pflegepersonal nicht repräsentativ ist. Zusätzlich haben wir im qualitativen Studienteil Interviews mit 15 Pflegenden und 15 Ärztinnen zum Schutz und zur Prävention von sexueller Belästigung geführt. Ein Ergebnis der Studie war, dass sexuelle Belästigung gegen Pflegefachkräfte primär von Patienten und Angehörigen ausgeht, bei Ärztinnen und Ärzten eher von Kollegen und Vorgesetzten.

Mehr als die Hälfte von 1.531 Personen (53 Prozent) gaben bei einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes an, dass Belästigung am Arbeitsplatz von Kundinnen und Kunden, Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten ausgeht. (Studie „Strategien im Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“, 2019)

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Wie definieren Sie sexuelle Belästigung?

Es ist Grenzüberschreitung und Abwertung aufgrund des Geschlechtes. Sie kann sowohl verbal, körperlich und nonverbal stattfinden. Das zählt unserer Definition nach zur sexuellen Belästigung:

Oft zweifeln die Betroffenen, ob wirklich sexuelle Belästigung stattgefunden hat. Zum Beispiel, wenn ein Patient immer wieder Komplimente „zur tollen Figur“ macht. Das wird von den Betroffenen oftmals gar nicht als sexuelle Belästigung benannt, stört sie aber dennoch. Sie finden es nicht angemessen, weil es sie im professionellen Arbeitssetting abwertet. Wenn sie es als respektlos und übergriffig empfinden, ist es ganz klar sexuelle Belästigung.

Machen die männlichen Pflegefachkräfte ähnliche Erfahrungen?

Ja, das passiert auch Männern. Da masturbieren ältere Damen, wenn die junge Pflegefachkraft reinkommt. Oder sie loben ihn, wenn er sie im Intimbereich wäscht. Aufgrund von nach wie vor bestehenden konservativen Rollenbildern sind jedoch Männer mehrheitlich die Ausübenden.

Sie sprachen gerade Körperpflege an. Ist Körperkontakt ein Risikofaktor für sexuelle Belästigung?

In der Pflege aber auch im ärztlichen Beruf, zum Beispiel bei diagnostischen Eingriffen wie Endeskopien, werden körperliche Intimgrenzen überschritten. Aber die Pflegenden machen das, um Pflegemaßnahmen zu vollziehen. Sie kündigen es an und sagen, was sie tun. Die sexuelle Belästigung, die vom Patienten ausgeht, ist ja oft ganz plötzlich und ohne Ankündigung. Viele nutzen es bei der Körperpflege aus, dass die Hand wie rein zufällig an den Po fällt oder dass sie sich am Kittel in Brusthöhe festhalten, obwohl die Pflegefachkräfte genaue Anweisungen geben, wo sie sich festhalten sollten. Wenn die körperliche Distanzgrenze überschritten wird, ist das ganz klar sexuelle Belästigung.

Was können Pflegefachkräfte tun, wenn sie von sexuellen Übergriffen betroffen sind?

Da muss sofort eine Grenze gesetzt werden, auch bei älteren Patienten, die hilfsbedürftig sind. Übergriffiges Verhalten ist auf keinen Fall akzeptabel im professionellen Setting. Wenn eine Pflegefachkraft in der Situation nicht alleine reagieren kann, sollte sie unbedingt das Zimmer verlassen und sich Kolleg*innen anvertrauen. Sie kann auch die Vorgesetzten bitten, mit dem Patienten zu sprechen und darum bitten, dass die Pflegeperson gewechselt wird. Ich möchte jeder Pflegefachkraft empfehlen, dass sie in der Situation den Patienten in seine Schranken weist. Ganz klar und in kurzen Sätzen dem Ausübenden sagt: So nicht! Wenn Sie das nicht unterlassen, hole ich meinen Vorgesetzten. Es hilft oft, wenn die nächste Hierarchieebene kommt. Bei sexueller Belästigung geht es nicht einfach um Sexualität, sondern auch um Machtmissbrauch. Und betroffen sind am ehesten die, die in der Hierarchie weiter unten stehen.

Wie sollten sich Kolleg*innen gegenüber Betroffenen verhalten?

Sexuelle Belästigung ist ein subjektives Empfinden. Die betroffene Person ist der Seismograph für diese Übergriffe. Ganz oft sagen Kolleg*innen „na die jetzt wieder, die ist ja eh so sensibel …“ Neben der sexuellen Belästigung müssen sich die Betroffenen dann noch die Kommentare von Kolleg*innen und Vorgesetzten anhören. Die fragen oft nicht nach, was passiert ist, sondern bewerten, statt sich die Betroffene anzuhören und sie sensibel zu begleiten. Andere sagen „ach, das ist eben ein Tätschler, aber sonst ist er so nett“. So wird der sexuelle Übergriff häufig noch legitimiert. Es gibt keine allgemeingültige objektivierbare Ebene, was sexuelle Belästigung ist! Kolleg*innen sollten Solidarität mit den Betroffenen zeigen. Grundsätzlich sollten sie Unterstützung und Gesprächsbereitschaft anbieten und die Betroffenen gegebenenfalls an die Vorgesetzten*, die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten* oder den Personalrat verweisen.

Was können Pflegedienst- und Stationsleitungen tun, um ein angstfreies Arbeitsumfeld zu schaffen?

Sie müssen sich ganz klar gegen Sexismus stellen. Sie sollten das Thema im Team besprechen und signalisieren, dass sie hinter ihren Leuten stehen. Sie können auch die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten einladen, die darüber aufklären, wie wichtig zum Beispiel die Unterstützung seitens der Kolleg*innen ist. Und als letzten Schritt kann die Leitungsebene im konkreten Fall auch über eine Entlassung des übergriffigen Patienten nachdenken.

Haben Sie konkrete Tipps für die Pflegefachkräfte?

Mehr Abstand wahren, auf Distanz gehen, weniger reden, weniger lachen – das hört man immer wieder. Aber was sind das bitteschön für Tipps? Empathie zeigen gehört zum Berufsbild. Zudem würde es heißen, die Pflegefachkräfte müssen sich schützen. Und wenn sie das nicht tun, sind sie selbst schuld. Wenn Menschen denken, dass sie übergriffig sein wollen und das direkt provozieren bzw. herausfordern, dann müssen sie dafür sanktioniert werden und nicht anders herum.

Kommt sexuelle Belästigung heute häufiger vor als früher?

Ich glaube, dadurch dass es enttabuisiert ist und es Möglichkeiten gibt, sich zu beschweren und Beratungen einzuholen, werden sexuelle Belästigungen häufiger angezeigt. Aber sie kommen nicht häufiger vor.

An wen können sich Betroffene wenden?

Die erste Anlaufstelle sind hier die Vorgesetzten. Bei Patientenübergriffen ist es ziemlich klar, dass ein Zimmerwechsel stattfindet. Wir als Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten sind für sexuelle Belästigung auf horizontaler und vertikaler Ebene zuständig. Im Pflegekontext sollte sexuelle Belästigung eigentlich in Form von Supervision aufgearbeitet werden oder es müsste spezielle Anlaufstellen geben. Aber das fehlt. Leider. Denn Pflegende sind doch in einem hohen Ausmaß sexuellen Übergriffen ausgesetzt und ertragen sie. Viele sagen, das gehört zum Job, aber nein, es gehört nicht zum Job! Je mehr die Pflegefachkräfte ertragen, desto abgestumpfter und unsensibler könnten sie werden. Wenn man das Beste für die Patient*innen möchte und sich dann aber Respektlosigkeiten und sexuelle Übergriffe gefallen lassen muss, ist das auf Dauer nicht zu ertragen. Die Folgen sind beispielsweise innere Kündigungen.

Mehr als 40 Prozent der 1531 befragten Personen hatten keine Kenntnis über betriebsinterne Beschwerdestellen bei Diskriminierung und sexueller Belästigung. (Studie „Strategien im Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“, 2019)

Welche Konsequenzen hat die Charité Berlin aus den Ergebnissen ihrer Studie gezogen?

Wir haben festgestellt, dass sexuelle Übergriffe keine Einzelfälle sind, sondern ein systemisches Problem. Seit 2016 gibt es in unseren Häusern zahlreiche Präventionsmaßnahmen gegen sexuelle Grenzverletzungen am Arbeitsplatz. Das Universitätsklinikum hat eine Richtlinie zur Vorbeugung von Grenzverletzungen verabschiedet. Hierin hat der Vorstand null Toleranz gegenüber sexueller Belästigung festgelegt. Zudem zeigt die Richtlinie verbindliche Rahmenbedingungen mit ausführlichen Verhaltenskodizes für alle Beschäftigten auf. Darüber hinaus können die Beschäftigten der Charité ein Whistle-Blower-Programm zur anonymen Meldung von Verdachtsfällen nutzen. Die zuständigen Beratungsstellen, der Beratungs- und Beschwerdeablauf sowie die Richtlinie sind auf der Intranet-Startseite zu finden.

*Die WPP war 2015 deutschlandweit die erste Erhebung, die sexuelle Belästigung beim Klinikpersonal zum Thema hatte. Von 4000 Pflegenden an der Charité Berlin haben 200 teilgenommen. 743 Ärztinnen und Ärzten der Charité wurden ebenfalls befragt. 60 Prozent der Teilnehmenden waren weiblich, 39 Prozent männlich und ein Prozent hat eine andere Geschlechtsidentität angegeben.

Quellen:

 Interview: Dagmar Trüpschuch

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Foto: privat
Sabine C. Jenner ist die dezentrale Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte am Universitätsklinikum Charité in Berlin.

Über Sabine C. Jenner

Jahrelang arbeitete sie als Gesundheits- und Krankenpflegerin, bevor sie ein Studium in Soziologie und Erziehungswissenschaften aufsattelte und in der Erwachsenenbildung tätig war. 2014/2015 war sie Studienkoordinatorin und wissenschaftliche Begleitung beim Forschungsprojekt „Watch-Protect-Prevent“ (WPP) an der Charité Berlin, das zum Thema sexuelle Belästigung beim Klinikpersonal durchgeführt wurde.*

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