Seit gut 30 Jahren gibt es Pflegemanagement-Studiengänge, doch über Umgangsformen von Pflegekräften findet sich kaum Literatur. Dabei ist dieses Thema brisant, denn Lebensqualität und Wohlbefinden der Patientinnen, Bewohner und Mitarbeitern hängen wesentlich davon ab, ob Leitung und Kolleginnen und Kollegen die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens kennen und anwenden. So signalisieren Pflegekräfte Menschen in vulnerablen Situationen, dass sie sie als Mitglieder der Gesellschaft begreifen, denen ein höfliches Verhalten zusteht – und nicht als Personen mit Defiziten und Abhängigkeiten.
Die Frage, die sich darüber hinaus aber für Führungskräfte und sensible Kolleginnen und Kollegen immer wieder stellt, lautet: Wie reagiert man am besten, wenn eine Pflegekraft sich unhöflich verhält und Umgangsformen vermissen lässt? Auf diese Frage gibt es unterschiedliche Antworten – ganz abhängig davon, welche Ursache hinter der Unhöflichkeit steckt. Ein Überblick über die vier verbreitetsten Ursachen und die jeweils angemessene Reaktion auf unhöfliche Verhalten.
1. Unhöflichkeit als Ausrutscher
Pflege ist zu einem großen Teil Interaktion zwischen Menschen. Dass mitunter Grenzen der Erträglichkeit erreicht werden und es zu Grenzsituationen kommt, die „zur Weißglut treiben“ und „die Galle hochsteigen lassen“, gehört zu allen Dienstleistungsberufen dazu.
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Doch gerade in der Pflege befinden sich Patienten, Bewohnerinnen und Angehörige in einer speziellen Situation. Die muss berücksichtigt werden. Psychische Ausnahmezustände, Schmerzen, unsichere Zukunft, Angst vor Kontrollverlust und ähnlichem bringen Menschen dazu, sich „wie in eine Ecke gedrängt“ zu fühlen.
Das führt oft zu dem sogenannten herausforderndem Verhalten. Für Pflegekräfte bedeutet dies, sich in der Balance zwischen „professioneller Nähe“ und „professioneller Distanz“ sich eher der Distanz zuzuneigen. Denn wer in einer Ausnahmesituation die Contenance verliert, handelt unprofessionell.
Und sollte es doch zu einem Ausrutscher, einer verbalen Entgleisung gekommen sein? Dann heißt es:
- abkühlen
- dokumentieren
- eigene Anteile am Geschehen suchen (müde, hungrig, sich an etwas Unangenehmes erinnert gefühlt?)
- erklären, entschuldigen
- für die zukünftige Zusammenarbeit Lösungen suchen
Ein offener Umgang innerhalb der Institutionen schafft Augenmaß für das, was geschehen ist und macht aus einer tabuisierten Situation eine Lernchance.
2. Höflichkeit und Umgangsformen nicht gelernt
Das Klagen über die mangelnden Umgangsformen der nachfolgenden Generationen ist Jahrhunderte alt. Höflichkeits- und Benimmregeln verändern sich und werden neubewertet – das gehört zum Wesen einer Gesellschaft. Der Wechsel von einer Alterskohorte in die nächste kann auch hieran abgelesen werden: Sobald sich der Gedanke „das hätte es früher nicht gegeben“ aufdrängt, ist der Übergang in die nächste Generation vollzogen.
Wenn die Kinderstube fehlt, lässt sich Höflichkeit später noch gut lernen
Benimmregeln und höfliches Verhalten lernen wir früh im Leben: Die Familie und das nähere Umfeld sind unsere Vorbilder. Doch scheren sich die Vorbilder nicht um Benehmen und Höflichkeit, prägt das auch den Nachwuchs. Dann ist oft von mangelnder oder fehlender „Kinderstube“ die Rede.
Diesem Defizit ist relativ leicht zu begegnen: Die Führungskraft muss eine klare Ansage machen und selbst – zusammen mit den Teammitgliedern – als Vorbild dienen können. Voraussetzung ist allerdings, dass diejenige, die in der Kindheit einfach nicht die Chance hatte, höflichen und freundlichen Umgang zu lernen, den Willen hat, ihr Defizit abzubauen.
Konkret zeigen, wie Höflichkeit und Freundlichkeit funktionieren
Genauso wichtig ist, dass die Führungskraft ihre Kritik wohlwollend und wertschätzend formuliert und nicht dünkelhaft und von oben herab. Sie darf ihr Gegenüber nicht grundsätzlich „verdammen“; es geht darum, im Blick zu behalten, dass es um ein bestimmtes Verhalten geht, nicht um die Person insgesamt. Hilfreich ist es in solchen Fällen, genau zu beschreiben, was in verschiedenen Situationen höfliches und unhöfliches Verhalten ausmacht, und zu erklären, warum das unhöfliche Verhalten als distanzlos und verletzend empfunden wird. Vormachen (damit es gut nachgeahmt werden kann), schulen und Regeln klar kommunizieren – das alles kann in solchen Fällen viel bewirken.
3. Missachtung bestimmter Menschen oder Menschengruppen
Wohlwollen und eine wertschätzende Grundhaltung gegenüber allen Klientinnen, Patienten, Bewohnerinnen, Mitarbeitern und Kolleginnen ist eine Grundvoraussetzung für den Pflegeberuf. Pflegekräfte, die ihr Verhalten gegenüber Einzelpersonen oder Menschengruppen von ihren persönlichen und privaten (Vor-)Urteilen und Vorlieben abhängig machen, sind in einer Gesundheitseinrichtung nicht tragbar.
Ein zynisches Menschenbild, gepaart mit undifferenziertem Zorn und genereller Wut auf Menschen oder Menschengruppen, sind ein Zeichen potenzieller Gewaltbereitschaft. Wenn Führungskräfte ein solches Verhalten beobachten und sich dieses trotz Aufforderung nicht ändert, dürfen sie als eine mögliche, wenn auch letzte Konsequenz, eine Kündigung nicht ausschließen.
Bei Zynikern hilft manchmal nur noch die Kündigung
Eine Kündigung ist in manchen Fällen auch deshalb notwendig, weil menschenverachtende und zynische Kollegen meistens auch schlechte Stimmung im Team verbreiten und für Praktikantinnen und Auszubildende ein schlechtes Vorbild sind.
In solchen Fällen konsequent zu reagieren, fordert auch der International Council of Nurses (ICN) in der Präambel zu seinem Ethikkodex für Pflegende, die sich ausdrücklich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen bezieht: „Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich kultureller Rechte, des Rechts auf Leben und Entscheidungsfreiheit, auf Würde und auf respektvolle Behandlung. Pflege wird mit Respekt und ohne Wertung des Alters, der Hautfarbe, des Glaubens, der Kultur, einer Behinderung oder Krankheit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung, der Nationalität, der politischen Einstellung, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen Status ausgeübt.“ (International Council of Nurses ICN, 2012).
4. Wenn Stress unhöflich macht
Wird von Pflegekräften und Führungskräften ein Arbeitstempo und eine hoch verdichtete Arbeitsweise erwartet, ist dies strukturell bedingte und wissentlich tolerierte Respektlosigkeit. Stress macht unhöflich – in einer Arbeitsumgebung, die kaum Zeitressourcen für einen menschlichen Umgang zulässt, werden dann sehr schnell Höflichkeitsformen wie An-die-Türe-klopfen, Warten, Zuhören, Zeitlassen bei der Verrichtung der Körperpflege, Rücksicht im Sprechtempo und vieles mehr weggelassen.
Mit Pflegekräften rücksichtsvoll und wertschätzend umzugehen, zählt auch zur betrieblichen Gesundheitsförderung. Führungskräfte in Wohnbereichen und auf Stationen sind besonders gefordert: Sie müssen die Vorgaben der Einrichtungsleitung mit einer klaren Wertehaltung umsetzen und darauf achten, dass der respektvolle Umgang im Team und im Umgang mit Bewohnern und Patientinnen nicht leidet. Unhöfliches und respektloses Verhalten ist in jedem Fall unprofessionell, das sie auch in Zeiten von Personalknappheit nicht dulden dürfen und sanktionieren müssen.
Die Führungskraft hat dabei eine vermittelnde Rolle: Sie muss die Geschäftsführung überzeugen, die Arbeitslast zu reduzieren, und an Disziplin und Professionalität der Pflegekräfte appellieren. Alle drei M-Ebenen (Makro, Meso, Mikro) müssen zusammenspielen, die Verantwortung tragen alle drei Ebenen, nicht nur die Pflegekräfte auf der Mikro-Ebene. Führungskräfte (einschließlich Geschäftsführung) dürfen das Zeit-Problem nie mit einem Schulterzucken abtun. Denn wie soll der österreichische Publizist und Sozialdemokrat Paul Blau (1915-2005) gesagt haben: „Der Unterschied zwischen Brutalität und Menschlichkeit ist die Geschwindigkeit.“
Umgangsformen: Krankenpflegeschulen sind gefordert
Den Teams vor Ort sowie Krankenpflegeschulen kommt die wichtige Aufgabe zu, Auszubildende auch in puncto Höflichkeit und Umgangsformen zu betrachten und zu bewerten. Die Schulung der sozialen Kompetenz und der emotionalen Intelligenz gehören ohne Zweifel zum Aufgabenbereich der Pflegepädagogen. Das fängt übrigens schon bei der Auswahl der Auszubildenden an. Es geht schließlich darum, Patienten und Bewohnerinnen vor respektlosen Umgang zu schätzen – ein Umgang der ihrer Genesung und ihrem Wohlbefinden enorm schaden kann.
Über Dr. Margit Schäfer
Die Pflegepädagogin arbeitet auch als systemische Organisationsentwicklerin und Coach – mit besonderem Blick auf die Rolle der Führungskräfte. Ihr Beitrag für pflegen-online erschien erstmals 2016 in der Zeitschrift pflegenetz unter der Überschrift „Betragensnote: Nicht genügend“.