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Corona-Pandemie

Was jetzt dringend in Pflegeheimen passieren muss

Besuchsverbote konnten Corona-Ausbrüche nicht verhindern. Was besser wirken könnte, erklärt Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer vom Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM)

Heimleitungen, Pflegekräfte, aber auch die Wissenschaft kann einiges unternehmen, um die Situation in den Pflegheimen zu entspannen, meint Gabriele Meyer vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Universität Halle-Wittenberg. Die Professorin und examinierte Krankenschwester ist Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM), das kürzlich in einer Stellungnahme zur Corona-Pandemie, „eine solide klinisch-epidemiologische Datenbasis zum Infektionsgeschehen in Pflegeheimen zu schaffen“ gefordert hat.

pflegen-online: Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, das EbM, kritisiert, dass Angehörige von Pflegeheimbewohnern zwar seit Wochen aus den Heimen ausgesperrt werden, dies aber nicht zur Verhinderung von Corona-Ausbrüchen dort geführt habe. Im Gegenteil: Die Fälle häufen sich sogar. Welche Gründe vermuten Sie als EbM-Vorstandsmitglied? Gibt es dazu handfeste Erkenntnisse?

Gabriele Meyer: Nein, es gibt keine handfesten Erkenntnisse dazu. Potenziell kommen als Überträger ja nur zugehende Ärzte und Therapeuten, Besucher, einziehende Bewohner und die ein- und ausgehenden Pflegenden in Frage. Zudem: Wie auch in der Stellungnahme des EbM Netzwerks geschrieben, reicht es nicht, nur bei symptomatischen Bewohnern und Pflegern zu testen. Bevor das Stadium der Symptome eingetreten ist, haben die infizierten Bewohner oder die Pflegenden möglicherweise das Virus bereits kräftig verbreitet.

Kann der allseits beklagte Mangel an Schutzkleidung für das Pflegepersonal zu den Ausbrüchen geführt haben?

Das ist doch sehr wahrscheinlich. Der eklatante Mangel an Schutzkleidung, der anfangs zu beklagen war, hat sicher dazu beigetragen, aber sicher auch mangelndes Testen.

Woran hapert es Ihrer Meinung beziehungsweise Erkenntnis nach bei den Heimleitungen beziehungsweise Trägern der Einrichtungen?

Wir wissen ja nichts Konkretes über den Kenntnisstand der Heimleitungen und Träger, insofern ist das Kaffeesatzleserei. Die Einrichtungen halten sich an die regionalen Vorgaben, manche offensichtlich über das Maß hinaus und ohne Flexibilität und Kreativität, andere nutzen die Spielräumen, sind fantasievoll und sehr bemüht, aus der misslichen Situation das Beste zu machen.

Was könnten einzelne Pflegekräfte jetzt besser machen?

Um diese Frage beantworten zu können, müssten wir erst einmal belastbare Informationen über das derzeitige Pflegehandeln haben. Pflegende sollten auf jeden Fall außerhalb des Heims absolut sorgfältig eine Infektion vermeiden; ich gehe aber davon aus, dass sie dies nach bestem Wissen und Gewissen auch mehrheitlich tun.

Zudem ist natürlich ihre Kreativität in besonderem Maße gefragt, das Vakuum durch die fehlenden Außenkontakte der Bewohner zu füllen, Außenkontakte zu unterstützen durch Telefon, Videokontakt und Ähnliches, andere Kontaktpflege zu stimulieren und die heilsame Wirkung der Freunde und Angehörigen und die Folgen von Einsamkeit und fehlender Abwechslung nicht zu unterschätzen.

Brauchen wir in Pflegeheimen auch mehr Gespräche über Patientenverfügungen? Palliativmediziner fordern dies. Nur jeder dritte Bewohner habe eine solche Verfügung. Viele Hochbetagte möchten wohl mehrheitlich gar nicht mehr in ein Krankenhaus zur Intensivbehandlung mitsamt Beatmungsprozedur eingeliefert werden, sondern lieber im Beisein der Angehörigen friedlich sterben.

Der Gesetzgeber hat ja schon mit dem Paragraf 132 g Sozialgesetzbuch V die Patientenverfügungen in Pflegeheimen gepusht (Anm. der Redaktion: siehe Absatz ganz am Ende dieses Inerviews). Leider ist die Umsetzung unglücklich, das wird jetzt offenbar. Aber jetzt ist sicher nicht der günstigste Zeitpunkt, forciert Gespräche zum Advance Care Planning (ACP), also der im Voraus geplanten Behandlung, herbeizuführen und qualifizierte Patientenverfügungen mit allen zu erstellen,. Das heißt nicht, dass ACP unterlassen werden soll, aber die Bewohner können nicht zum Ausfüllen einer Patientenverfügung genötigt werden. Solche Gespräche und Aushandlungsprozesse erfordern eine hohe Sensibilität und eine gute Schulung derjenigen, die ACP Gespräche anbieten, ansonsten können sie verängstigend wirken und die Bewohner verstören.

Angehörige erleben oft, dass hochbetagte Heimbewohner eher schneller als zu spät ins Krankenhaus gebracht werden, auch aus haftungsrechtlichen Gründen. Was ist dazu zu sagen?

Auch ohne vorliegende Patientenverfügung und sogar bei Vorliegen einer, die für den aktuellen Anlass ja nicht gültig sein muss, muss eine Behandlungspräferenz im Falle einer Erkrankung unbedingt eruiert werden; der Wille des Bewohners ist das Gebot. Ist der Wille nicht direkt zu klären, muss versucht werden, ihn zu eruieren, etwa durch Gespräche mit den nahestehenden Menschen. Krankenhauseinweisungen, die nicht im Interesse des Bewohners sind, sind Körperverletzung. Fragen des Haftungsrechts verlieren ihre vermeintliche Bedeutung, wenn die Entscheidungsfindung begründet und dokumentiert ist.

Autorin: Birgitta vom Lehn

„Task Force“ für Pflegeheime

Das EbM fordert in seiner Stellungnahme „eine solide klinisch-epidemiologische Datenbasis durch systematisches Testen, systematische Dokumentation, Aufbau eines Registers und Beforschung von Versorgungsmodellen“. Nur belastbare Evidenz könne „die Verhältnismäßigkeit von einschneidenden Maßnahmen in das soziale Leben und die Grundrechte der Bewohner legitimieren“. Das EbM fordert hierzu die Einrichtung einer „Task Force“ für das koordinierte Handeln im Umgang mit dem Setting Pflegeheim.

„Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase“ (Paragraf 132g SGB V)

„(1) Zugelassene Pflegeeinrichtungen (…) können den Versicherten in den Einrichtungen eine gesundheitliche Versorgungsplanung und Betreuung für die letzte Lebensphase anbieten. Versicherte sollen über die medizinisch-pflegerische Versorgung und Betreuung in der letzten Lebensphase beraten werden, und ihnen sollen Hilfen und Angebote der Sterbebegleitung aufgezeigt werden. Im Rahmen einer Fallbesprechung soll nach den individuellen Bedürfnissen des Versicherten insbesondere auf medizinische Abläufe in der letzten Lebensphase und während des Sterbeprozesses eingegangen, sollen mögliche Notfallsituationen besprochen und geeignete einzelne Maßnahmen der palliativ-medizinischen, palliativ-pflegerischen und psychosozialen Versorgung dargestellt werden. Die Fallbesprechung kann bei wesentlicher Änderung des Versorgungs- und Pflegebedarfs auch mehrfach angeboten werden. (…)

„(4) Die Krankenkasse des Versicherten trägt die notwendigen Kosten für die (…) erbrachten Leistungen der Einrichtung nach Absatz 1 Satz 1.“

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