Der Lärm auf Intensivstation belastet viele Patienten – es sind die Maschinen, oft aber auch die lauten Gespräche.  
Foto: Kristina Flour/Unsplash
Der Lärm auf Intensivstation belastet viele Patienten – es sind die Maschinen, oft aber auch die lauten Gespräche.  

Praxis-Tipps

Was Intensivpatienten sich von Pflegenden wünschen

„Die bekommen doch nichts mit?!“ Das mögen Außenstehende vielleicht denken. Aber: Intensivpatienten erleben unterbewusst vieles mit – auch in Sedierung. Was könnte aus ihrer Sicht besser laufen?

An ihre Zeit auf der Intensivstation denkt Katrin Ziegler* mit Grauen zurück. „Wenn ich wach war, hatte ich Halluzinationen, wenn ich schlief, hatte ich Albträume“, sagt die heute 39-Jährige. „Ich weiß nicht, was schlimmer war – die Albträume oder die Realität.“ Vier Wochen lag sie mit einer schweren Sepsis auf der Intensivstation. Sie hat nur wenige Erinnerungen daran, wie ernst ihr Zustand war und was genau auf der Intensivstation gelaufen ist. „Unbewusst habe ich aber sehr viel mehr mitbekommen, als man sich vorstellen kann.“

Ähnlich ging es Sebastian Riemann*. Nach einer Covid-Infektion lag der 46-Jährige 13 Tage im Koma auf der Intensivstation. Immer wieder hatte er angsteinflößende Träume, an die er sich noch sehr klar erinnert. Er träumte zum Beispiel, dass er in ein MRT-Gerät gelegt und vergessen wurde. „Ich hatte nichts zu essen, nichts zu trinken und habe um Hilfe gerufen. Niemand ist gekommen“, sagt er. In einem anderen Traum wurde er zur Physiotherapie gebracht. Drohnen flogen über ihn hinweg und scannten ihn ab, Roboterarme griffen nach ihm. Wieder rief er vergeblich um Hilfe. „Die Medikamente haben schlimme Dinge mit mir gemacht“, ist er sich sicher. „Während des Komas war mein Unterbewusstsein voll da.“

Jeder fünfte Intensivpatient entwickelt Belastungsstörung (PTBS) 

In der Regel erfüllt ein Intensivaufenthalt alle Merkmale, die ein Trauma kennzeichnen. Die Patienten erleben eine extreme Hilflosigkeit, ihr Leben ist bedroht und es ist unklar, wie es weitergeht und ob sie überleben werden. Hinzu kommt: Die Umgebung einer Intensivstation ist extrem stressreich, es herrscht ein hoher Lärmpegel und die Patienten können sich in der Regel nicht verbalisieren. „Ich war wie gefangen in meinem eigenen Körper“, sagt eine ehemalige 46-jährige Intensivpatientin. „Ich war zwar nicht fixiert, aber durch die vielen Schläuche und Elektroden war ich irgendwie doch wie angebunden. Es war ein Gefühl der Orientierungs- und Ausweglosigkeit.“

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Wie belastend eine solche Situation ist, verdeutlichen auch Studienergebnisse. Laut Metaanalysen entwickeln etwa 20 Prozent der Patienten im ersten Jahr nach einer Intensivbehandlung eine posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, also jeder fünfte Patient.

Posttraumatische Belastungsstörung auf Intensiv vorbeugen

Wie kann man einer Traumatisierung von Intensivpatienten vorbeugen? Ein Intensivaufenthalt ist eine der wenigen Situationen, in der sich eine mögliche Traumatisierung vorhersehen lässt – im Gegensatz zu Verkehrsunfällen oder Gewalterfahrungen. Damit spielt der Präventionsgedanke eine wichtige Rolle. Allerdings steckt die Forschung in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen und die Ergebnisse sind noch nicht so aussagekräftig, wie es sich Forschende selbst wünschen würden.

Doch was sagen ehemalige Intensivpatienten? Was wünschen sie sich von Pflegenden und Ärzten?

1. Wunsch: Enge Bezugspersonen auf die Intensivstation lassen

Für Patienten ist es extrem wichtig, dass auf der Intensivstation nahe Angehörige bei ihnen sein dürfen – so oft wie möglich. „Am Anfang hat mein Mann nur meine Hand gehalten und an meinem Bett gesessen“, sagt Katrin Ziegler. „Immer, wenn er da war, konnte ich schlafen und hatte auch keine Albträume. Ging er weg, bin ich wach geworden und die Träume kamen zurück.“ Auch ihre Mutter saß oft bei ihr und hat ihre Hand gehalten oder ihr vorgelesen. „Allein ihre Stimme zu hören, hat mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben.“ Die 23-jährige Lara Bruch* lag nach einem septischen Schock im Koma, aus dem sie nach einer Woche erwachte. Später sagte sie: „Als ich gesehen habe, dass Mama da ist, wusste ich, alles wird gut.“

Angehörige sind das zentrale Bindeglied zur Realität – und werden in der bedrohlichen Situation der Intensivstation oft als „Anker“ erlebt. Sie sind auch die entscheidende Verbindung zum Fachpersonal, indem sie mit den Ärzten sprechen und dem Patienten das Gesagte später „übersetzen“.

2. Wunsch: Mit dem Patienten reden und möglichst viel erklären

Ehemalige Patienten äußern den klaren Wunsch, dass Pflegende und Ärzte sie immer ansprechen, bevor sie eine Handlung durchführen, ihnen möglichst viel erklären und sie ernst nehmen – auch „wenn sie verwirrt sind und ihre Erzählungen verrückt erscheinen“. Sie wünschen sich ausführliche und am besten wiederholte Erklärungen, warum bestimmte invasive Maßnahmen erforderlich sind. „Wenn man sich die Mitarbeit von Patienten wünscht, muss man sich auch die Zeit nehmen, das so zu erklären, dass der andere das versteht“, sagt eine Patientin, die über ein halbes Jahr im Krankenhaus und in dieser Zeit auf zwei Intensivstationen lag. Einem 58-jährigen Patienten ist das negative Framing aufgefallen, mit dem viele Maßnahmen angekündigt wurden, wie „Jetzt wird es mal unangenehm“, „Jetzt nicht erschrecken“ oder „Ich habe mal einen Anschlag auf sie vor“. „Das klang alles eher so, als wäre man an einem gefährlichen Ort und müsste sich Sorgen machen“, sagt er. Er war sich der positiven Intention der Pflegenden bei ihren Ankündigungen zwar bewusst. Diese hätten ihn jedoch nicht beruhigt, sondern eher das Gegenteil bewirkt.

3. Wunsch: Den Patienten mitentscheiden lassen

Als sehr negativ werten es Patienten, wenn Pflegende und Ärzte einfach über ihre Einwände hinweggehen und sie nicht selbst mitentscheiden dürfen. Ein ehemaliger Patient kritisierte ihre „Attitüde, dass du genau tun sollst, was sie von dir erwarten“. Auf der Überwachungsstation wurde bei ihm stündlich der Blutdruck kontrolliert. Als er Bedenken äußerte, dass er dann nachts nicht schlafen könne, wurde das „einfach so ohne Erklärung“ weggewischt. „Ich hätte mir gewünscht, dass die Pflegende sagt: ‚Das ist Ihre Entscheidung, aber ich halte es aus diesem oder jenem Grund für sinnvoll, auch nachts den Blutdruck stündlich zu kontrollieren.‘ So fühlt man sich in vielen Situationen als Patient nicht ernst genommen und entmündigt“, sagt er. Auch ein anderer Patient berichtet, dass ihm – gegen seinen Willen – ein Schmerzmedikament verabreicht worden sei, mit dem er zuvor schlechte Erfahrungen gemacht hatte: „Schlimm daran war für mich, dass der Pfleger einfach über meine Einwände hinweggegangen ist und ich nicht über mich selbst entscheiden durfte. Und danach war es natürlich noch schlimmer mit den Schmerzen.“

4. Licht, Lärm & Berührung – möglichst viel Rücksicht nehmen

Patienten wünschen sich von den Pflegenden und Ärzten auch ein größeres Maß an Rücksicht, was bedeutet, notwendige Berührungen vorher anzukündigen oder unnötiges Licht und laute Geräusche zu vermeiden. Durchschnittlich beträgt die Geräuschkulisse auf einer Intensivstation 43 bis 66 Dezibel, Spitzenwerte liegen zwischen 80 und 90 Dezibel – das ist ähnlich hoch wie auf einer stark befahrenen Straße (80 Dezibel). Katrin Ziegler beschreibt, wie sie Geräusche in ihre Träume eingebaut hat. „Bei mir waren der Tastsinn und das Gehör supersensibel. Kaum zu ertragen waren metallische Geräusche, zum Beispiel die Metalljalousien, die Bettpfannen-Spülmaschine oder wenn versehentlich etwas zu Boden gefallen ist“, sagt sie. Dann habe sie manchmal sogar um Hilfe oder nach der Polizei gerufen.

Negativ erwähnten Patienten auch laute, oft private Gespräche vor den Patientenzimmern. „Was mir in allen Kliniken negativ aufgefallen ist, ist, dass die Mitarbeitenden sich häufig über ihre Arbeit oder auch die Kollegen beschweren. Ich weiß, die Bedingungen in der Pflege sind schwierig. Aber diese negative Energie überträgt sich auf die Patienten“, beklagt eine Patientin. An diesem Zitat wird deutlich, dass die Patienten sehr viel mehr mitbekommen, als dem Fachpersonal vielleicht bewusst ist.

5. Ein Intensivtagebuch für die Patienten führen

Katrin Ziegler hat sich im Nachhinein gewünscht, dass jemand ein Intensivtagebuch für sie geführt hätte. In diese Bücher schreiben Angehörige und Pflegende gemeinsam Ereignisse und Entwicklungen während der Bewusstlosigkeit auf. In Skandinavien gibt es schon seit Jahren Tagebücher für Patienten, die künstlich beatmet werden. Auch auf deutschen Intensivstationen werden sie immer häufiger eingesetzt. „Für so ein Buch würde ich heute alles geben, einfach, um die verlorene Zeit rekonstruieren und dadurch besser verstehen und verarbeiten zu können“, sagt Ziegler.

Für Jan Kastner*, der mit 19 einen schweren Sportunfall hatte und vier Wochen im Koma lag, haben Familie und Pflegende mehrere Intensivtagebücher geführt. Anfangs konnte er wenig damit anfangen, aber später wurden die Tagebücher immer wichtiger für ihn. „Gerade, wenn es mir schlecht ging und ich mich wertlos gefühlt habe, habe ich ganz viel darin gelesen.“ Jan ist überzeugt, dass die Bücher in seinem Fall ein wichtiger Baustein waren, dass es ihm heute besser geht. Deshalb geht er auch in Pflegeschulen und Weiterbildungsstätten für Intensivpflegende, um Intensivtagebücher bekannter zu machen. „Ich weiß, wie viel Kraft und Energie man aus diesen Büchern ziehen kann. Man kann durch so eine harte Geschichte gut durchkommen“, sagt er, „aber das geht nur über den Weg der Verarbeitung und Erinnerung.“

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Kommunizieren beugt Posttraumatische Belastungsstörung vor

Je besser Pflegende und Ärzte mit Patienten kommunizieren und je mehr Rücksicht sie auf ihre Bedürfnisse nehmen, desto seltener treten Ängste, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen nach einem Intensivaufenthalt auf. Das ist in Studien mittlerweile gut belegt. Die Erfahrungen ehemaliger Intensivpatienten sind dabei eine wertvolle Hilfe. In den Niederlanden werden Patienten und ihre Familien nach ihrem Aufenthalt wieder auf die Intensivstation eingeladen. Sie berichten von ihren Erfahrungen, was gut war und was hätte besser gemacht werden können. Diese Gespräche heißen Spiegelgespräche, weil die Teammitglieder quasi in einen Spiegel sehen. Die Meetings sind freiwillig, aber immer gut besucht. Sie sind sehr lehrreich – und kosten nicht viel.

* Name geändert.

Autorin: Brigitte Teigeler

Mehr als 35 Gespräche mit Betroffenen und Experten

Für das Buch „Auf der Intensivstation – Patienten und Angehörige zwischen Leben, Tod und Trauma“ (erschienen 2022 im Hogrefe-Verlag) haben Brigitte Teigeler und Sabine Walther mit sechs ehemaligen Intensivpatienten und sieben Angehörigen gesprochen. Darüber hinaus sprachen die Autorinnen mit 25 Experten und nutzen für ihre Recherchen mehr als 120 Literaturquellen.

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