Wird der Corona-Lockdown im Frühjahr für einen Baby-Boom sorgen und die Kreißsäle um Weihnachten herum zusätzlich belasten? Die Vermutung liegt nahe: Paare hatten zu Hause mehr Zeit und Gelegenheit, sich um die Familienplanung zu kümmern. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) heizte diese gute Hoffnung mit einem vielfach zitierten Beitrag an: „Nach Corona-Lockdown: Mehr Schwangerschaften in OWL“. Frauenärzte und Hebammen würden in der Region Ostwestfalen-Lippe „einen leichten Anstieg bei den Schwangerschaften verzeichnen“, hieß es. Der Sender nannte sogar konkrete Zahlen: „Im Moment seien es 10 bis 20 Prozent mehr.“ Und: „Als Grund vermuten sie den Corona-Lockdown im Frühjahr.“
10 bis 20 Prozent mehr Geburten? Fake, sagen Frauenärzte
Ein Anruf beim Berufsverband der Frauenärzte zeigt jedoch: Dort ist man wenig amüsiert über die Verkündung eines angeblichen Baby-Booms. Das sei schon „sehr fake“, sagt eine Sprecherin. Obendrein habe der Sender nicht mit den Ärzten, sondern nur mit den Medizinischen Fachangestellten in den Praxen gesprochen. Ein einstündiges, aufwendiges Interview mit einer Frauenärztin, die einen solchen Boom widerlegt hätte, sei ignoriert worden. Fazit des Verbands: Eine seriöse Aussage zu einem Baby-Boom lasse sich derzeit nicht treffen.
Möglicherweise Baby-Boom in Köln
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Der Landesvorsitzende des Berufsverbands der Frauenärzte Nordrhein, Bernd Bankamp, betont auf Anfrage ebenfalls, dass es verlässliche Zahlen über die Schwangerschaften von Seiten der Kassenärztlichen Vereinigung „leider erst sehr verzögert gibt“. Seine Nachfrage bei Kollegen aus Nordrhein habe ergeben, dass „nur aus Köln“ von mehr Schwangeren als sonst in den Praxen berichtet wurde. „Aus den anderen Orten konnte man keine derartige Tendenz hören. Ich selbst habe eine Praxis in Krefeld, da sind die Zahlen relativ konstant.“
WDR verteidigt seine Recherche
Der WDR will derweil „bei den beiden Verbänden der Frauenärzte in Nordrhein-Westfalen (NRW), der Landesvorsitzenden der Hebammen NRW und rund 50 Frauenarzt-Praxen“ nachgefragt haben. „Dabei ergab sich ein Trend, dass es mehr Schwangerschaften gibt“, verteidigt Thorsten Rudnick aus der Kommunikationsabteilung des Senders den hauseigenen Baby-Boom-Beitrag. Zugleich betont er, dass es sich hier nicht um eine repräsentative Umfrage handle und „noch keine validen Zahlen vorliegen“.
Hebammen: eventuell mehr Geburten um Weihnachten
Das Fehlen der Zahlen bestätigt auch Barbara Blomeier, Erste Vorsitzende des Landesverbands der Hebammen NRW. Beobachtungen ihrer Kolleginnen könnten zwar auf einen Trend in Richtung mehr Geburten zu Weihnachten hinweisen, konkrete Zahlen hätten sie aber nicht.
Definitiv ein Trend: Hausgeburten
Beim Deutschen Hebammenverband heißt es nur, in Beratungsangeboten werde „verstärkt über Hausgeburten gesprochen“. Da könne man schon von einem „echten Trend“ sprechen. Hintergrund sei, dass die Schwangeren Angst hätten, sich in der Klinik mit dem Coronavirus anzustecken oder während der Geburt auf den Partner verzichten zu müssen.
Von „deutlich mehr Anfragen für die Monate Januar bis März 2021, die immens über unsere Kapazitäten hinaus gehen“, berichtet derweil die Münchner Hebamme Judith Sobotta. Die Geburtsvorbereitungskurse von November bis Januar inklusive Zusatztermine seien „sehr schnell voll gewesen“.
1.300 mehr Stellen in Geburtshilfe-Abteilungen
Immerhin dürfen Schwangere künftig auf eine bessere Hebammenversorgung in den Kliniken hoffen: Krankenhäuser sollen laut Versorgungsverbesserungsgesetz des Bundesgesundheitsministeriums künftig mehr Stellen für Hebammen erhalten - eine Entscheidung, die streng genommen, nicht auf Corona zurückzuführen ist. Ein Förderprogramm mit 65 Millionen Euro pro Jahr (Laufzeit 2021 bis 2023) soll dazu aufgelegt werden. Dadurch können etwa 600 zusätzliche Hebammenstellen und bis zu 700 weitere Stellen für assistierendes medizinisches Personal in Geburtshilfeabteilungen geschaffen werden. Für viele Stationen dürfte das allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, denn schon jetzt – auch ohne Baby-Boom - ist die Personalsituation auf den Entbindungsstationen angespannt.
Positive Folge von Corona: weniger Frühgeburten
Einen positiven Effekt für Schwangere und ihre ungeborenen Kinder hat der Lockdown nachweislich schon gehabt: Forschergruppen aus Irland und Dänemark berichten über deutlich weniger Frühgeborene. Die staatliche angeordnete Ruhe hat den Schwangeren und ihren ungeborenen Kindern offenbar sehr gut getan. In der dänischen Untersuchung ist von einem Rückgang extremer Frühgeburten vor der 27. Schwangerschaftswoche um 90 Prozent die Rede, in der irischen Untersuchung immerhin um 73 Prozent. Als Gründe nennen die Forscher eine verringerte Anzahl physischer Kontakte, der stärkere Fokus auf Hygiene, eine veränderte, oft häusliche Arbeitsumgebung und geringere Luftverschmutzung.
Autorin: Birgitta vom Lehn