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Wannsee-Schule Berlin

Warum wir uns auf die Generalistik freuen können

An der Wannsee-Schule gibt es die Generalistik schon seit 14 Jahren. Ein eindeutiger Gewinn, wie Katharina Kutzer (23), Christina Maddocks (40) und Nicole Döhler (24) meinen (Foto v.l.).

In nicht einmal zwei Jahren, 2020, soll sie also kommen: die generalistische Pflegeausbildung. Der Weg ist bereitet, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat kürzlich die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung vorgelegt. Doch was bedeutet die Generalistik konkret für künftige Pflegeschüler? Das Magazin der Pflegekammer Rheinland-Pfalz hat dazu vor einiger Zeit ein Interview mit drei Schülerinnen der Wannsee-Schule in Berlin geführt, das wir an dieser Stelle noch einmal veröffentlichen. Die Drei stehen inzwischen kurz vor dem Examen. Für Christina Maddocks ist es der zweite Beruf: Sie hat bereits Hotels und Shopping-Center in Dubai vermarktet.

Warum haben Sie sich für die generalistische Ausbildung entschieden?

»»Nicole Döhler: Mein Traum ist es, ein paar Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff oder im Ausland zu arbeiten. Da empfiehlt sich ein Abschluss, der dem europäischen Standard entspricht. Aber auch ganz allgemein betrachtet, hebt die europäische Anerkennung den Berufsstand hierzulande.

»»Christina Maddocks: Es ist doch gar nicht so einfach, sich von vornherein festzulegen. Viele sind bis zum Ende der Ausbildung unentschlossen. Die Entscheidung fällt leichter, wenn man erst einmal in alle Bereiche Einblick erhalten hat.

»»Katharina Kutzer: Ich habe diese Schule vor allem gewählt, weil man hier richtig gut unterschiedliche Situationen probt – es gibt im Keller ein nachgestelltes Wohnzimmer, in dem wir etwa lernen, uns in der Wohnung des Patienten richtig zu verhalten und zu improvisieren. Gut ist auch, dass an praktischen Prüfungen Schauspieler teilnehmen, die beispielsweise einen Patienten mit COPD mimen – den müssen wir dann beraten, während er mit der Luft ringt. In der Praxis habe ich schon oft gemerkt, dass mir die Generalistik zugutekommt. Vor einiger Zeit etwa lag ein Patient im Sterben: Die Familie war zu Besuch und die Mutter überfordert, als die Tochter ihr Fragen zum Vater stellte. Während ich den Sterbenden versorgte, konnte ich mit der Tochter sprechen und so die Mutter entlasten. Ohne die Sterbewoche in unserer generalistischen Ausbildung hätte ich das, so glaube ich, nicht geschafft.

Aber spüren Sie nicht gelegentlich fachliche Defizite?

»»Maddocks: Ich war im Anschluss an den Gynäkologie-Block auf der Wöchnerinnenstation. Dort habe ich mich mit einigen Schülerinnen der Kinderkrankenpflege unterhalten – und ich muss sagen, dass ich mich nicht weniger fähig fühlte. Das hat aber sicherlich auch mit dem Konzept unserer Schule zu tun: Der Theorieblock passt grundsätzlich bei allen Schülern zum unmittelbar folgenden Praxiseinsatz. Das ist an dieser Schule möglich, weil sie mit 20 Krankenhäusern kooperiert – übrigens ein weiterer Grund, weshalb ich mich für diese Schule entschieden habe.

»»Döhler: Meine beste Freundin arbeitet in der Kinderpflege in Karlsruhe. Uns beiden ist aufgefallen, dass sie etwa bei dem Thema motorische Entwicklungsstörungen viel mehr in die Tiefe gegangen ist, wir hingegen haben es nur angerissen …

»»Katharina Kutzer: … unser Vorteil ist aber, dass wir alles als Grundbaustein lernen. So sind wir auf unterschiedlichste Situationen gut vorbereitet. Kinder liegen heute beispielsweise oft zusammen mit Erwachsenen auf einer Station, weil es gar nicht mehr so viele pädiatrische Fälle gibt – da ist es gut, sich auch mit Älteren auszukennen.

»»Nicole Döhler: Das ist überhaupt das Gute an unserer Schule, dass sie auf aktuelle Situationen reagiert, wir Vorschläge machen können und diese dann möglicherweise ich den Lehrplan aufgenommen werden. Jetzt haben wir uns zum Beispiel auch mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt und, klar, wir lernen auch Nursing English.

»»Christina Maddocks: Aber warum nicht auch ein wenig Türkisch, Arabisch oder Russisch, haben wir gefragt? Wenn man den Patienten in seiner Muttersprache nur ein paar Dinge fragen kann – etwa: „Ist Ihnen übel?“ – dann schafft das viel Vertrauen.

Jetzt sind wir ganz von der Generalistik abgekommen – sagen Sie: Haben Sie die politische Diskussion darüber verfolgt?

»»Katharina Kutzer: Ja, aber ich verstehe das Gejammer nicht. Ich kann mich nach der dreijährigen generalistischen Ausbildung immer noch spezialisieren – es gibt doch Weiterbildungen für die verschiedensten Fachgebiete wie Intensivpflege, OP- oder Palliativpflege. Warum sollte es nicht auch welche für die Pädiatrie, die Geriatrie oder auch die Chirurgie geben?

»»Nicole Döhler: Es gibt zurzeit ganz andere Herausforderungen. Was mich wirklich traurig macht: Wir haben keine Zeit für die Patienten. Man rackert acht Stunden und hat am Ende doch das Gefühl, die Patienten nicht gut versorgt zu haben.

»»Katharina Kutzer: Wir waren neulich zwei Tage im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, einer Klinik für anthroposophische Medizin, und haben viel über Wickel und Einreibungen gelernt. Aber wir können diese wirklich guten Behandlungsformen gar nicht anwenden – dafür fehlt schlicht die Zeit. Übrigens hat mir eine Krankenschwester auf Station neulich erzählt, dass sie vor 15 Jahren immobile Patienten nachmittags gelegentlich in die Badewanne gehoben haben. Die Patienten fühlten sich hinterher richtig gut, denn so ein Bad ist etwas ganz anderes, als immer nur mit einem Lappen gewaschen zu werden. Heute ist so etwas gar nicht mehr möglich.

»»Nicole Döhler: Unter dem Zeitmangel leidet natürlich auch die praktische Ausbildung. Es fehlen auf den Stationen oft Praxisanleiter, wir müssen viel selbst machen und bekommen den Druck voll zu spüren. Neulich habe ich mitbekommen, wie eine junge Schülerin angeblafft wurde, warum sie es nicht geschafft habe, das Inkontinenzmaterial allein am Patienten zu wechseln.

»»Christina Maddocks: Oft erkennen die älteren Kollegen auch gar nicht an, dass wir Dinge hinterfragen und uns an der Wissenschaft orientieren. Gerade beim Thema Händehygiene bekomme ich häufig zu hören: „Ja, ja, das lernt ihr jetzt so, aber nach der Ausbildung kannst du das auch anders machen.“ Viele halten sich nicht an die einfachsten Regeln und tragen Schmuck, Uhren, lange Fingernägel, lackierte Fingernägel, falsche Fingernägel. Ohne Schutzkleidung ins Zimmer von MRSA-Patienten gehen – auch das habe ich schon gesehen.

»»Nicole Döhler: Aus diesem Grunde finde ich auch Pflegekammern gut: Die bauen Hürden auf und kümmern sich um die Qualitätssicherung in der Pflege, indem sie zum Beispiel regelmäßige Fortbildungen vorschreiben oder die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung bei Vorkommnissen entziehen.

»»Katharina Kutzer: Ja, durch Pflegekammern wird deutlich, dass unser Beruf ein eigener wertvoller Beruf ist, wir sind nicht die Assistenz der Ärzte und dürfen auch nicht nur in Verbindung mit diesen betrachtet werden.

»»Christina Maddocks: Unsere Aufgabe ist es, Patienten vor Komplikationen zu schützen und ihnen zu helfen, Selbstständigkeit zu erlangen. Wenn zum keine richtige Dekubitusprophylaxe passiert, kann das richtig gefährlich werden. Es gibt, man muss es so sagen, tatsächlich Situationen, in denen unsere Entscheidungen Leben retten.

Interview: Kirsten Gaede

Foto: Jens Schünemann

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