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Corona-Krise

Warum verzichtet Spahn auf so wichtige Pflege-Daten?

Gerade jetzt in der Corona-Krise die Personaluntergrenzen auszusetzen – ein paradoxer Akt, meint der Pflegedirektor des Deutschen Herzzentrums Berlin: Die dafür gesammelten Daten könnten die Versorgung der Covid-19-Patienten verbessern

Ein Kommentar von Sebastian Dienst, Pflegedirektor am Deutschen Herzzentrum Berlin

Ich weiß, dass ich nichts weiß, hat Sokrates gesagt. Ich nehme das auch mal für mich an. Trotzdem kann ich hinsehen und versuchen zu verstehen. Und deshalb verstehe ich nicht, warum gerade jetzt in der Pflege keine Daten mehr erhoben werden. Ich verstehe nicht, warum die Personaluntergrenzen ausgerechnet jetzt ausgesetzt werden. Nie brauchten wir sie dringender und gerade jetzt sollen sie nicht mehr gelten. Das verstehe ich nicht!

Endlich ging es wieder um die tatsächliche Besetzung auf Station

Mit den Personaluntergrenzen haben wir seit einem Jahr ein Instrument, das Personalbesetzung und Pflegeaufkommen zu mindestens in Teilen eines Krankenhauses misst, miteinander ins Verhältnis setzt und meldet. Dieses Instrument sollte bald auf das gesamte Krankenhaus ausgeweitet werden. Über die Grenzwerte (im Übrigen Mindestwerte, jedes Krankenhaus konnte auch eigene höhere Werte anstreben) kann man sich streiten. Aber dieses Instrument hat zum ersten Mal dafür gesorgt, dass sich Politiker, Krankenkassen und Klinikbetreiber wieder für die „Wahrheit auf dem Platz“ interessiert haben – welche lautet: Wie hoch (oder niedrig) ist die tatsächliche Besetzung auf Station gemessen am Patientenaufkommen.

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Einige Kollegen sind extrem belastet, andere bauen Überstunden ab

Das ist die Wahrheit, die zählt. Gerade jetzt. Denn zurzeit gibt es in Deutschland einige Krankenhäuser, die durch die Corona-Pandemie und Covid-19-Patienten stark belastet sind. Krankenhäuser, die Personal freisetzen müssen, weil es zu einer Massenansteckung gekommen ist. Und diese Häuser und vor allem die Mitarbeiter und Patienten dort brauchen Unterstützung, sprich Personal und Schutzausrüstung. Eine weitere Möglichkeit wäre Patienten von dort in andere gut aufgestellte Häuser zu bringen. Denn die gibt es ja auch: Kliniken, die eine volle Personalbesetzungen haben, kaum ausgelastet sind und Überstunden abbauen. Und dies sind nicht wenige. Wir haben in Deutschland gerade eine der niedrigsten Krankenhausauslastungen seit vielen Jahren!

Mit den Daten für die Untergrenzen könnte man Unterstützung für überlastete Kollegen organisieren

Für all diese Maßnahmen wären die Daten, die wir seit gut einem Jahr zu den Personaluntergrenzen erheben, enorm hilfreich. Doch nun hat das Bundesgesundheitsministerium sie ausgesetzt. Welch ein paradoxer Akt! Gesundheitsminister Jens Spahn hätte an ihnen festhalten, sie am besten sogar ausweiten müssen auf die anderen Bereiche im Krankenhaus – gerade jetzt. Natürlich ist es richtig die Sanktionen auszusetzen, wenn ein Haus unverschuldet in die schlechten Besetzungen gekommen ist, aber das war mit dieser Verordnung ja auch möglich.

Wir haben das niedrigste Personal-pro-Patientenverhältnis in Europa

Wenn jetzt wieder das Argument der Mehrbelastung für das Erheben der Daten ins Feld geführt wird, scheint mir dies nur eine Schutzbehauptung. Offenbar war der Wunsch, genau hinzusehen und genau zu messen, nie wirklich ausgeprägt. Kein Wunder: Die Datenanalyse würde nur bestätigen, dass unser Gesundheitssystem im Normalfall schon überdehnt gewesen ist und es eines der niedrigsten Personal-pro-Patientenverhältnisse in Europa hat. Seit Jahren konkurrieren hier Fallzahlwachstum mit gleichbleibender Personaldecke und sehenden Auges spitzt sich die Lage immer weiter zu. Leider wird zusätzlich ausgerechnet in diesem System schon immer gern mehr Medizintechnik gekauft, als sicherzustellen, dass ausreichend Personal da ist, um dieses zu bedienen.

Was soll jetzt der Applaus? Für das Grippe-Chaos hat sich auch niemand interessiert

Doch statt die Daten zu erheben, um Antworten auf die dringenden Fragen unseres Gesundheitssystems zu finden, schalten wir auf blind und applaudieren den Pflegenden. Und so fragen sich viele; was ist im nächsten Jahr, wenn kein Coro sondern wie immer Noro durch den Frühling zieht? Wenn zur Grippesaison die meisten Krankenhäuser wieder teilweise zu über 100 Prozent ausgelastet waren und kein elektives Programm abgesagt wird, so wie die Jahre zuvor.

Mit PPR 2.0 durch die nächste Krise? Besser nicht ...

Durch PPR 2.0 als Alternative zur Personaluntergrenze sollen Minutenwerte erhoben werden und dann im Monatsdurchschnitt retrospektiv ermittelt, ob genügend VKs eingestellt waren. Wenn wir damit durch die nächste Krise steuern wollen, viel Spaß. Wir im Deutschen Herzzentrum Berlin werden weiter schichtgenau das Patienten-Personalverhältnis messen und damit steuern. Auch werden wir die Daten allen, die es interessiert, weiterhin melden: unseren Mitarbeitern, Bewerbern, dem Betriebsrat und auch dem Inek (Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus). Für tun das für unser Personal und unsere Patientensicherheit.

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