Mit Anamnese- und Biografiebogen, Stammblatt, weiteren Formularen für Behandlungspflege, Medikation, Screenings, Assessments und Abklärungshilfen für Risiken türmten sich um 2010 vor der Pflegekraft immer höhere Berge von Schreibarbeit. Vielen dürften die SIS-Vorgänger-Modelle mit den Fachbezeichnungen ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens) und AEDL (Aktivitäten und existenzielle Erfahrungen des Lebens) noch geläufig sein. Bei den AEDL wurde die Anzahl der Formulare zwar reduziert, trotzdem blieben oft mehr als 15 Seiten zur Bearbeitung übrig.
Pflegedokumentation kostete 2,7 Milliarden Euro pro Jahr
Daniel Menzel, Pflegedienstleiter einer oberbayerischen Einrichtung, erinnert sich: "Dieses alte System war hochkomplex, starr und sehr aufwendig. Allein die seitenlange Schreibarbeit nahm extrem viel Zeit in Anspruch. Zeit, die für die direkte Pflege am Bett dann fehlte. Vor allem die persönlichen Bedürfnisse der Bewohner fielen stets hinten runter." Kein Wunder, dass die jährlichen Kosten für die Dokumentation laut Statistischem Bundesamt jährlich rund 2,7 Milliarden Euro betrugen (2009). Eine Entbürokratisierung war also fällig.
Das Bundesgesundheitsministerium gab den Anstoß für die Entbürokratisierung, Verbände der Pflegeanbieter, der Deutsche Pflegeverband für Pflegberufe (DBfK), der GKV-Spitzenverband – sie alle haben unter der Federführung der Ombudsfrau Elisabeth Beikirch den wuchernden Dokumentationsaufwand zurechtgestutzt. Die Empfehlungen, die Elisabeth Beikirch dann im Jahr 2013 vorlegte, ebneten dann den Weg.
Entbürokratisierung durch einen 4-stufigen Pflegeprozess
Es war ein vielschichtiges, großes Projekt, zu dessen Umsetzung die Strukturierte Informationssammlung (SIS) als erstes Element des Strukturmodells dienen sollte. Ein ganz neuer Ansatz in einem vierstufigen Pflegeprozess, neben der SIS außerdem bestehend aus
- der individuellen Maßnahmenplanung
- dem Pflegebericht
- und dem Behandlungsbogen und eventuellen Zusatzdokumenten im Rahmen des Risikomanagements (Risikomatrix)
Bewohner-Aussagen werden in Ich-Form im SIS-Bogen notiert
Die SIS ist eine vereinfachte Dokumentation, die sich ohne viel Aufwand der sich häufig ändernden Situation des Pflegebedürftigen anpassen lässt. Sie rückt die Individualität des Bewohners (oder Klienten) in den Vordergrund, sie wird personenzentriert. In der Befragung anhand der SIS werden die eigene Wahrnehmung, die persönlichen Erwartungen und Wünsche des Bewohners abgefragt und im genauen Wortlaut in der Ich-Form im SIS-Bogen aufgeschrieben. Ein zentrales Element stellen im Erstgespräch Leitfragen dar wie
- Was bewegt Sie im Augenblick?
- Was brauchen Sie?
- Was können wir für Sie tun?
Auch das ein elementarer Unterschied: Im alten System waren die Fragen statisch und unpersönlich, quasi wie eine Art Checkliste, in der Bewohner oder Klienten „abgearbeitet" wurde. Jetzt werden sie mit ihren individuellen Bedürfnissen viel stärker in die Prozesse des Pflegeheims einbezogen.
1. Vorteil: „Endlich steht der Menschen wieder im Mittelpunkt“
Das scheint in diesem Fall nicht nur ein schön formuliertes Versprechen, wie eine stichprobenartige Anfrage in verschiedenen Pflegheimen zeigt. Elfriede Olejok von Pflegeteam AHK Pflegeteam in Berlin sagt: „Ich finde die SIS insofern gut, weil es endlich das ermöglicht, was ich mir schon seit Jahren wünsche. Ich stelle den Menschen wieder in den Mittelpunkt meines Handelns, indem ich mich mit ihm unterhalte, schaue wo seine Bedürfnisse sind und schreibe diese in der SIS fest. Daraus leite ich meine fachlichen Maßnahmen ab, die gezielt auf der Beziehung zwischen mir und dem Bewohner beruhen.“
„Frühere Modelle waren hauptsächlich defizitär angelegt“
Mona Schniering, Pflegeleitung des Hauses Jacobus in Osthofen (Rheinland-Pfalz) ist ebenfalls begeistert: „Bei der SIS zählt komplett der Bewohner mit seinen ureigenen Bedürfnissen. Der Ist-Zustand, also was ein Mensch (noch) kann, steht im Vordergrund. Ebenso wird die pflegerische Fachlichkeit gestärkt." Daniel Menzel bestätigt: „Die früheren Modelle waren hauptsächlich defizitär ausgelegt. Also, es wurde geschaut, was der Mensch alles nicht mehr kann. In gewissem Maße ist das zwar wichtig zur Vermeidung von Risiken, es hat den Menschen aber auch starr in eine Schublade gesteckt, ohne dabei seine potentiellen Ressourcen auch nur zu berücksichtigen." Bei der Arbeit mit der SIS geht es deswegen oft sehr emotional zu. Die Menschen dürfen erzählen, sich anvertrauen mit ihren Ängsten, Sorgen und Bedürfnissen. Der Mensch wird gehört, so wie er ist. Das hilft vielen über die oft schwierige Anfangsphase im Pflegeheim hinweg.
2. Vorteil: 30 Prozent mehr Zeit für Pflege und Beratung
Gibt es weitere Vorteile der SIS? Die Dokumentation ist weniger ausufernd, der zeitliche Aufwand hat sich deutlich reduziert, sagen Pflegedienstleitungen. In einer Evaluation des Projektbüro Ein-STEP im Auftrag der Bundesregierung haben die Frage nach der Zeitersparnis 79 Prozent der Pflegedienstleitungen und 74,4 Prozent der Pflegefachkräfte in Pflegeheimen mit „Ja“ beantwortet. Auf die Frage, wofür die eingesparte Zeit genutzt wird, antworteten alle Befragten-Gruppen mehrheitlich mit der Angabe „individuelle Pflege“ (zwischen 59,5 und 70,6 Prozent), gefolgt von „Anleitung und Beratung der Pflegebedürftigen“ (zwischen 38,5 und 44,8 Prozent). Insgesamt wird die Zeitersparnis auf 30 Prozent geschätzt.
3. Vorteil: SIS fordert die Fachlichkeit der Pflegekräfte
Außerdem ist die Fachlichkeit der Pflegekraft mit der SIS mehr gefordert. Die Fachbuchautorin Jutta König allerdings hält „die Verschlankung und den Zeitfaktor“ nicht für die wesentlichsten Erfolge. „Das Novum ist, dass der pflegebedürftige Mensch jetzt im Fokus steht und in jedem Themenfeld zu Wort kommt. Weg von der destruktiven Betrachtungsweise und den Selbstversorgungsdefiziten - das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel."
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Die SIS ist bislang nicht verpflichtend. Jede Einrichtung kann selbst entscheiden, mit welchem System sie dokumentiert. Nach Einschätzung der Trägerverbände haben inzwischen 80 Prozent aller Altenpflegeeinrichtungen das neue Strukturmodell beziehungsweise die SIS eingeführt, berichtet das Bundesgesundheitsministerium. Für die restlichen 20 Prozent würde es sich in jedem Fall lohnen nachzuziehen, ist Beraterin Jutta König überzeugt –, auch wenn Pflegekräfte in der Einrichtung der Meinung seien, „man komme doch ganz gut klar, mit dem, was man habe“. Die nötige Schulungen und Anpassungen im Zuge der Einführung seien in jedem Fall der Mühe wert.
Autorin: Nina Sickinger