pflegen-online: Erst einmal ganz grundsätzlich, Frau Sporbert: Warum soll Gedächtnistraining überhaupt gut sein?
Marianne Sporbert: Bei unserem Gehirn verhält es sich genauso wie bei allen anderen Muskeln im Körper auch: Wollen wir sie erhalten oder kräftigen, müssen wir sie trainieren. Für Bauch, Beine oder Po treiben wir Sport und bewegen uns. Unser Gehirn halten wir mit Gedächtnistraining (im folgenden GT genannt) fit. Jeder kann das tun - um unter anderem geistig agil zu bleiben, die Konzentration, Merkfähigkeit oder das allgemeine Wohlbefinden zu steigern. Aber auch nach einem Schlaganfall, einem Unfall, bei dem das Gehirn betroffen ist, bei kognitiven Störungen oder sogar bei einer Demenz lässt sich mit regelmäßigem GT das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen.
Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen dazu?
In der Vergangenheit gab es viele Studien. Doch Experten bemängelten stets, die klinischen Ergebnisse seien nicht repräsentativ, da die Untersuchungsbedingungen nicht der realen, häuslichen Umgebung entsprächen. Eine Studie unter der Leitung von Prof. Tilo Strobach mit insgesamt 170 Teilnehmern, aufgeteilt in eine Trainings- und eine Kontrollgruppe, hat nun gezeigt, dass die Teilnehmer der Trainingsgruppe nach nur 21 Einheiten zu Hause, ihr Gedächtnis sowie weitere kognitive Merkmale merklich verbessern konnten. Im Alltag stellten sich positiv lebensverändernde Effekte ein: Termine wurden seltener vergessen und fehlende Konzentration bei der Arbeit und Unentschlossenheit bei wichtigen Entscheidungen sind deutlich gesunken. Die gemessenen Veränderungen übertrafen die der Kontrollgruppe, die nur Sprachübungen absolvierte, eindeutig.
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Eine weitere Studie zur Effizienz findet sich in der wissenschaftlichen Schriftenreihe „Kognitives Training“ nach Dr. Franziska Stengel.
Wie funktioniert Gedächtnistraining?
Durch regelmäßiges Gedächtnistraining werden neue Synapsen, das sind neuronale Verknüpfungen, gebildet. Eine Synapse ist die Kontaktstelle für die Informationsübertragung zwischen Nervenzellen, eine Grundvoraussetzung für das Lernen. Ohne diese wären wir nicht in der Lage, Gedanken zu formulieren und uns zu erinnern. Und wir haben zwei Gehirnhälften: Die rechte ist zuständig für das Kreative, die Intuition und räumliches Denken, etc. - die linke Gehirnhälfte für das Logische und Rationale wie zum Beispiel Sprache, Schrift oder Analyse. Für ein besonders optimales Ergebnis beim Gedächtnistraining sollten immer beide Gehirnhälften trainiert werden.
Warum?
Ein Beispiel erklärt es: Würden wir immer nur das linke Bein trainieren und das rechte nicht, könnten wir nach einiger Zeit nicht mehr dynamisch-rund laufen. Genauso verhält es sich mit unserem Gehirn: Fokussiert man sich unbewusst immer nur auf eine Gehirnhälfte, verkümmert die andere. Dieser Aspekt ist den meisten Menschen leider gar nicht bekannt. Auch wissen viele nicht, dass beide Gehirnhälften für unterschiedliche Bereiche „zuständig“ sind. Deswegen: Täglich Kreuzworträtsel lösen, ist zwar gut, aber bitte niemals nur als einzige Maßnahme. Denn es beansprucht nur eine Gehirnhälfte, die andere käme definitiv zu kurz.
Welche Art von Gedächtnistraining ist empfehlenswert?
In der Praxis gibt es natürlich viele Ansätze. Besonders effektiv ist aber sicherlich die ganzheitliche Betrachtungsweise nach Dr. Franziska Stengel, die Körper, Geist und Seele umfasst: Für die körperliche Ebene werden zwischen den Übungen leichte Bewegungseinheiten eingebaut.
Der Geist wird durch die zwölf Trainingsziele beim Gedächtnistraining angeregt – das sind: Wahrnehmung, Konzentration, Merkfähigkeit, Wortfindung, Formulierung, assoziatives und logisches Denken, Strukturieren, Urteilsfähigkeit, Fantasie und Kreativität, Denkflexibilität und Zusammenhänge erkennen. So kommen immer beide Gehirnhälften zum Einsatz.
Die dritte Komponente, die Seele, kommt durch emotionale Beteiligung und soziale Interaktion zum Tragen, beispielsweise beim Gedächtnistraining in der Gruppe. Gute Trainer bauen ihre Stunden gemäß dieser ganzheitlichen Methode auf. In Pflegeeinrichtungen wird glücklicherweise recht umfangreich Gedächtnistraining angeboten, sogar in der Tagespflege. Über die Qualität könnte man sicherlich vielfach streiten. Hier wäre sehr zu empfehlen, immer eine Pflegekraft speziell in Gedächtnistraining ausbilden zu lassen.
Seit wann gibt es Gedächtnistraining?
Die Anfänge gehen bis zum Jahr 1850 zurück. Erste Forschungen und Erkenntnisse wurden von den so genannten Lerntheoretikern wie zum Beispiel Ebbinghaus, Pawlow oder Thorndike sowie von den bekannten Neurowissenschaftlern wie Vester, Birkenbihl, Lehrl und Stengel auf den Weg gebracht. Für eine spezielle Ausbildung können sich Berufs-Interessierte zum Beispiel an die Gesellschaft für Gehirntraining, BVGT, oder die AHAB-Akademie wenden.
Warum plädieren Sie für ein Gedächtnistraining speziell für Männer?
Von der Theorie her gibt es keinen Unterschied und im Prinzip gelten die gleichen Prioritäten oder Trainingsziele wie bei Gedächtnistraining für Frauen. Nur hat die Erfahrung gezeigt, dass Männer ganz andere Interessen haben. Es regt nicht unbedingt ihre Neugierde an, wenn sie mit Blümchen und Kochtöpfen konfrontiert werden. Der Anreiz für Männer ist wesentlich höher, wenn die Übungen sozusagen männerorientiert sind.
Hinzu kommt: Männer sind zurückhaltender als Frauen, wenn es um Gedächtnistraining geht und darum, Gruppen-Stunden zu besuchen. Weibliche Teilnehmerinnen finden schneller einen offenen Zugang, Männer müssen stärker motiviert oder durch klare Argumente überzeugt werden, warum und für was genau Gedächtnistraining gut ist.
Gibt es etwas, das Gedächtnistraining zusätzlich unterstützen kann?
Weitere Einflussfaktoren können dafür sorgen, das Gehirn gesund und fit halten. Dazu zählen unter anderem eine ausgewogene, vitamin- und nährstoffreiche Ernährung, denn unser Denkorgan - und das werden viele gar nicht wissen - verbraucht relativ viel Energie für alle Prozesse. Zusätzlich ist auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten, denn allein schon durch zu wenig Trinken können Schwindel und Erinnerungslücken entstehen. Und natürlich Sauerstoff, was durch tägliche Spaziergänge erreicht werden kann.
Viele Altenpflege-Experten raten von Gedächtnistraining für Demenzkranke ab, es bestehe die Gefahr von Defizitkonfrontation, sagen sie. Wie sehen Sie das?
Demenzkranke müssen da abgeholt werden, wo sie gerade (geistig) stehen, deswegen sind die Trainingsinhalte selbstverständlich an die jeweilige Person oder Gruppe anzupassen. Die Fähigkeiten sollen gestärkt und das Wohlbefinden durch positives Erleben gesteigert werden. Hierbei ist Fingerspitzengefühl des Trainers erforderlich, denn Unter- oder Überforderung können schnell zu Desinteresse, Frust oder Ablehnung führen. Aber insgesamt können auch mit Demenzpatienten bei regelmäßigem Gedächtnistraining gute Erfolge, wie zum Beispiel ein langsameres Voranschreiten der Erkrankung, erzielt werden.
Muss man bei der Auswahl der Teilnehmer etwas berücksichtigen?
Unterstützend ist es, wenn die Teilnehmer, vor allem bei Gruppen-Stunden, einen gemeinsamen Hintergrund haben. Zum Beispiel: Menschen mit einer Demenzerkrankung, Personen mit Gehirnverletzungen oder Schlaganfall-Patienten. Oder einfach Pflegeheim-Bewohner, die noch relativ fit sind, aber ihre geistige Fitness erhalten möchten.
Lässt sich Gedächtnistraining auch in den Alltag integrieren?
Hier gibt es unendlich viele Möglichkeiten, wie: Einkaufsliste zu Hause lassen, Telefonnummern oder Geburtstage auswendig lernen, Zähne mal mit der anderen Hand putzen. Generell auch regelmäßige Spaziergänge an der frischen Luft, Basteln, Lesen, sich mit Mitmenschen unterhalten, Stichpunkt soziale Interaktion, Karten spielen, Sudoku, Nachrichten anhören und mit jemanden darüber sprechen.
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Wie lassen sich Leute zum Gedächtnistraining motivieren?
Wenn es keine konkrete Diagnose gibt, sind Spaß und Freude an der Sache die besten Motivatoren. Potenzielle Teilnehmer lassen sich über Schnupperstunden ködern, in denen sie Gedächtnistraining unverbindlich ausprobieren können. Wenn sie dann merken, dass das Training Wirkung zeigt oder dass sich kognitive Störungen wirklich vermindern oder sogar beheben lassen, dann kommt der Ehrgeiz, weiter zu trainieren, von ganz alleine.
Interview: Nina Sickinger
Über Marianne Sporbert
Die Gedächtnistrainerin arbeitet als selbstständige Fachtherapeutin für Gehirnleistungstraining. Ihre Ausbildung absolvierte sie beim Bundesverband Gedächtnistraining (BVGT) nach dem Ansatz von Dr. Franziska Stengel. Im Schlütersche Verlag ist von Marianne Sporbert das Buch Hier trainieren Männer ihr Gedächtnis erschienen.
Die Anfänge des Gedächtnistrainings
Die Anfänge gehen bis zum Jahr 1850 zurück. Erste Forschungen und Erkenntnisse wurden von den so genannten Lerntheoretikern wie zum Beispiel Ebbinghaus, Pawlow oder Thorndike sowie von den bekannten Neurowissenschaftlern wie Vester, Birkenbihl, Lehrl und Stengel auf den Weg gebracht. Für eine spezielle Ausbildung können sich Berufs-Interessierte zum Beispiel an die Gesellschaft für Gehirntraining, BVGT, oder die AHAB-Akademie wenden.