Foto: Regionale Kliniken Holding (Ludwigsburg)
(Fotograf: Martin Stollberg)

Interview mit Tilmann Müller-Wolff

Warum es so wenige Intensivpflegekräfte gibt

In der Corona-Pandemie wir deutlich: Es mangelt an Intensivfachpflegekräften. Aber warum? Die Intensivpflege hat doch Prestige und schlecht bezahlt wird sie auch nicht ...

Warum nur interessieren sich nicht mehr Pflegekräfte für eine Weiterbildung und die Arbeit auf Intensivstation? Wir sprachen darüber mit Tilmann Müller-Wolff (Foto, rechts) von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Die DIVI ist diejenige Organisation, die zurzeit den besten Überblick über die intensivmedizinische Versorgung in Deutschland hat. Sie führt das Intensivregister, das tagesaktuell die Zahlen der Covid-Patienten auf Intensivstation (beatmet und nicht beatmet) anzeigt. Bei der DIVI ist Tilmann Müller-Wolff Sprecher der Sektion Pflegeforschung und Pflegequalität. Der Intensiv- und Anästhesiefachpfleger hat einen Master in Gesundheitsmanagement und leitet seit 2014 die Akademie der Regionalen Kliniken Holding in Ludwigsburg.

pflegen-online: Es gibt zu wenig Pflegefachkräfte auf deutschen Intensivstationen. Experten wie Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung haben das schon vor Jahren festgestellt, seit der Corona-Pandemie berichten auch Tagesschau, Spiegel und andere Publikumsmedien darüber. Was auffällt: Niemand benennt den Mangel konkret. Wie viele Pflegefachkräfte arbeiten auf den Intensivstationen? Wie viele fehlen? Hat die DIVI einen Überblick?

Tilmann Müller-Wolff: Tatsächlich gibt es keine validen Zahlen, es fehlt das Geld, sie zu erheben. Mit Pflegekammern wäre es möglich, sie haben die Möglichkeit, die Zahl der Pflegefachkräfte mit Intensivweiterbildung zu ermitteln, weil sie jede einzelne Fachkraft registrieren. Aber es gibt bisher nur Pflegekammern in drei Bundesländern, von denen eine – die in Niedersachsen – in Kürze aufgelöst wird. Einzelne Klinikbetreiber haben sicherlich einen Überblick über ihre eigenen Intensivstationen. Auch versucht das Deutsche Krankenhaus-Institut aus den Stellenausschreibungen Schlüsse zu zeihen – doch das alles führt nicht weit. Es reicht nicht, um die regionale Versorgung zu planen, und schon gar nicht für eine Einschätzung des deutschlandweiten Mangels.

Klar ist jedoch: Egal ob nun Fachpflegende weniger geworden sind oder Patienten mehr geworden sind, für eine bedarfsgerechte Versorgung in einer heftigen Pandemie scheint es nicht zu genügen.

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Ist die Intensivpflege nicht für junge ambitionierte Pflegefachkräfte interessant? Haben die kein Interesse an der Weiterbildung? Intensivpflege hat Prestige, sie gilt als anspruchsvoll, man ist am Puls der Zeit – das müsste doch manch Ausbildungsabsolventin, manch Absolventen reizen …

Tatsächlich kommen die Fachkräfte heute schon schneller und jünger in die Weiterbildung. Es gibt nicht mehr lange Wartelisten wie früher, die Bewerber werden unmittelbar qualifiziert. Die Jungen lassen sich auch nicht mehr lange hinhalten, die können sehr deutlich werden –die wandern dann in andere Felder der Pflege ab und qualifizieren sich eben dort.

Und man sieht auch: Die Kliniken, die an der Qualifizierung ihrer Mitarbeiter nicht gespart haben, stehen im Augenblick besser da. Ich beobachte, dass die Häuser mit höherer Fachquote außerdem stabilere Teams haben und Fluktuationen besser vertragen. Wenn dagegen nur wenige eine Intensiv-Weiterbildung haben, lässt sich der Weggang einer dieser Kräfte nur schwer kompensieren.

Was genau ist das Problem der Intensivpflege, wenn es jetzt mit der Weiterbildung doch besser klappt als früher?

Man darf nicht vergessen, dass viele Jahre viel zu wenig ausgebildet wurde. Vor rund 12 bis 15 Jahren, als die DRGs, die Fallpauschalen richtig scharf geschaltet wurden, bauten die Krankenhäuser Stellen in der Pflege ab. Die Jungen bekamen oft nur befristete Verträge. Das ist heute kaum mehr vorstellbar.

Ein weiteres Problem: Wenn den weitergebildeten Fachkräften die Anerkennung fehlt, sie an Grenzen stoßen und sie nur noch ausgequetscht werden – dann wandern sie oft ab in die Zeitarbeit. Die Zeitarbeit bringt unser System gerade zum Kippen, auch wenn es eigentlich nicht schlecht ist, wenn die Jungen Erfahrung in verschiedenen Häusern sammeln.

Warum fehlt die Anerkennung der pflegerischen Arbeit gerade auf Intensivstation? Die Tätigkeit ist anspruchsvoll, medizinnah und die Zusammenarbeit mit den Ärzten, so ist oft zu hören, besser als auf Normalstation.

Ja, die Zusammenarbeit funktioniert oft ganz gut. Die Intensivpflegekräfte können mehr oder weniger selbstständig arbeiten. Aber wenn es drauf ankommt, werden ihnen ihre Kompetenzen gerne auch mal wieder weggenommen. Denn die Arztzentriertheit und das Delegationsprinzip bleiben erhalten. Wenn ich zum Beispiel auf Intensivstation als Pflegefachkraft den Therapieplan durchführe und steuere, muss ich formal doch immer noch die Ärztin oder den Arzt fragen, wenn ich beim Weaning mit der Sauerstoffzufuhr runtergehe.

Die momentane Arztzentriertheit im deutschen Gesundheitswesen gehört eigentlich ins vergangene Jahrhundert. Fachpflegekräfte heutzutage nicht ihren Kompetenzen entsprechend einzusetzen ist eine reine Ressourcenverschwendung. Und das häufig nur, weil eine Art benevolenter Paternalismus aus der Vergangenheit immer nur dann nach „der Schwester“ ruft, wenn plötzlich keiner mehr zuständig ist. Die Pflegenden wissen um ihre Relevanz für die Gesellschaft und auch was sie fürs Gesundheitssystem beitragen können. Wir lassen sie nur häufig gar nicht, wir verschwenden eine reisige schlafende Ressource.

Manchmal werden zum Beispiel die Intensivfachkräfte nach ihrer Weiterbildung gar nicht gemäß ihrer neuen Kompetenzen eingesetzt. So kommt es immer wieder vor, dass sie keinen Zentralen Venenkatheter legen dürfen, weil man befürchtet die Assistenzarztausbildung könnte deshalb leiden.

Was muss passieren, damit Intensivfachkräfte auf Station mehr Verbindlichkeit erleben und nicht so schnell die Flucht ergreifen?

Das selbstständige Arbeiten der Pflegefachkraft und die interprofessionelle Zusammenarbeit in der Intensivmedizin müssten institutionalisiert werden. Die DIVI hat Qualitätsindikatoren für die Intensivmedizinische Versorgung aufgestellt: Dazu gehört auch die interprofessionelle Visite – traurig eigentlich, dass man das überhaupt betonen muss.

Eine interprofessionelle Ausbildung würde ebenfalls helfen, die Zusammenarbeit zu verbessern. Auch brauchen wir Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften, die die pflegerische Arbeit berücksichtigen. Dass die Pflege in zahlreichen Medizinischen Leitlinien überhaupt nicht auftaucht – das gibt es nur in Deutschland.

Wie würden Sie denn die Aufgaben der Pflegefachkräfte im Behandlungsprozess umreißen?

Es ist gar nicht so schwierig, die Kompetenzen der Pflege zu definieren. Die pflegerischen Kompetenzen auf der Intensivstation haben auch medizinische Aspekte, ganz klar – aber es gibt deutliche Unterschiede. Mediziner machen Diagnostik und entscheiden, welche Therapie der Patient erhält. Das war schon immer so und daran soll auch nicht gerüttelt werden. Doch Ärzte kennen sich beispielsweise mit dem Beatmungsprozess selbst selten so gut aus wie die Fachpflegekräfte. Fünf junge Ärzte können eine Intensivstation mit beatmeten Patienten kaum alleine betreiben, fünf Fachpflegekräfte können das aber durchaus und haben das schon immer getan.

Die Fachpflegekräfte steuern den Behandlungsprozess, sie beobachten den Patienten, sie achten darauf, ob und wie die Therapie wirkt, erkennen Komplikationen und den richtigen Augenblick, um die Angehörigen ans Bett heranzulassen. Wenn ein Patient das Krankenhaus oder eine Intensivstation betritt, ist das für ihn ein wenig so, als würde er sich in ein autonomes Fahrzeug setzen. Die Software, die den „Tesla“ sicher durch das Krankenhaus steuert, ist die Pflege. Die ganze Programmierung ist Pflegesoftware: Der Versorgungsprozess geht immer wieder an die Pflege zurück, sie wacht über den Prozess und weiß, die nächsten Schritte einzuleiten.

Im Übrigen gibt es sehr positive Nachrichten: Gestern Abend (3. Dezember 2020) hat die DIVI Mitgliederversammlung mit einer Satzungsänderung den Fachpflegenden volles Stimmrecht innerhalb des Verbands eingeräumt. Das ist Ergebnis einer seit zehn Jahren geführten Diskussion innerhalb des Verbands, die maßgeblich durch die Pflegevertreter in der DIVI vorangetrieben wurde, die Gruppe rund um Thomas van den Hooven, Rolf Dubb, Klaus Notz und ich. Damit werden sich zukünftig bestimmt noch sehr viel mehr Pflegende in der DIVI organisieren. Vielleicht, und das ist visionäre Zukunftsmusik, vielleicht kann irgendwann in der Zukunft eine Fachpflegende Präsidentin der DIVI werden, wir arbeiten jedenfalls daran, (lächelt).

Wie ist es mit der Bezahlung: Stimmt die? Pflegefachkräfte verdienen in der Intensivpflege doch recht gut – rund 55.000 Euro jährlich, hat mit mal eine Intensivkrankenschwester Ende 30 erzählt.

Die Bezahlung für Intensivpflege wird der Verantwortung in diesem Bereich nicht gerecht. Ein Assistenzarzt, der zum Facharzt für Intensivmedizin wird, macht einen enormen Sprung. Die Pflege ist weit entfernt davon: Wer die Weiterbildung absolviert hat, erhält monatlich etwa 200 Euro mehr als vorher. Das reicht definitiv nicht. Hier bin ich kein Fachmann, vielleicht dazu nur soviel: Eine Intensivpflegekraft muss mit ihrem verantwortungsvollen Job auch eine Wohnung in einer deutschen Stadt bezahlen können.

Was halten Sie davon, dass jetzt Pflegefachkräfte, die schon lange nicht mehr in der Intensivpflege arbeiten – oder dort vielleicht nie gearbeitet haben –, in der Corona-Pandemie eine Schulung erhalten, um den Personalmangel auf den Intensivstationen zu kompensieren?

Da spricht nichts gegen. Wer sich für eine solche Schulung entscheidet, ist motiviert – ich muss sie oder ihn dann nur entsprechend einsetzen. Intensivpflege ist ja grundsätzlich immer in die Pflegeausbildung inkludiert. Ich kann die geschulten Kräfte gut auf größeren Stationen einsetzen, als Springer etwa oder bei der Lagerung von Patienten. Mit einer Beatmung sollten sie allerdings nicht betraut werden. Sie können keine Intensivfachkraft ersetzen. Das ist eigentlich allen klar, außer jenen Politikern, die im Zusammenhang mit den Personaluntergrenzen immer nur Köpfe zählen und die Frage, ob die Mitarbeiter eine Weiterbildung absolviert haben oder nicht, völlig unberücksichtigt lassen. Da wären wir im Grunde wieder beim Thema fehlende Anerkennung … Eins ist klar: Die Fachpflegequalifikation muss der Standard für eine Mitarbeit auf Intensivstationen sein. Dafür müssen Weiterbildungen von den Kostenträgern besser finanziert werden und einer qualitativen Überwachung an Pflegekammern unterzogen werden. Dann kann man im nächsten Schritt über die zusätzlichen Kräfte zur Unterstützung sprechen.

Interview: Kirsten Gaede

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