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Altenpflege

Warum ein Flächentarifvertrag für viele gut wäre

ver.di und immer mehr freigemeinnütziger Träger wie die AWO wollen ihn, für viele Pflegekräfte hätte er Vorteile: ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag. Doch die Privaten blockieren.

Als im März in Bremen der „Tarifvertrag Pflege in Bremen (TV-Pflib)“ abgeschlossen wurde, war die Aufbruchsstimmung unter den Tarifpartnern groß. Schnell war von einem „Meilenstein in der Pflege“ die Rede. Tatsächlich ist das Vertragswerk ein bundesweites Novum: Erstmals haben sich Arbeitgeber der Freien Wohlfahrtspflege und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di trägerübergreifend auf einen Tarifvertrag geeinigt, der für etwas mehr als ein Drittel aller rund 9.000 Beschäftigten bei Pflegediensten und in Pflegeheimen im Bundesland Bremen gilt. Fast wäre damit ein Flächentarifvertrag für die Pflege in greifbare Nähe gerückt. Aber eben nur fast, denn die privaten Arbeitgeber stellten sich an der Weser quer und traten auf die Bremse. Mal wieder.

Altenpflege würde attraktiver

Dabei glaubt inzwischen nicht mehr nur ver.di, dass Pflegekräfte von einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag profitieren würden. Auch bei freigemeinnützigen Trägern wie in der Politik findet diese Idee zunehmend Anhänger, wie jüngst eine Umfrage des Arbeitgeberverbandes der Arbeiterwohlfahrt Deutschland (AGV AWO) in den Bundestagsfraktionen gezeigt hat. Angesichts des grassierenden Fachkräftemangels setzen viele auf eine stärkere Tarifbindung. „Wir brauchen einen Flächentarifvertrag, denn dieser würde die Attraktivität der Branche deutlich steigern“, sagt Gero Kettler, Geschäftsführer des AWO-Verbandes.

Individuelle Tarifverträge meistens Arbeitgeber dominiert

Doch warum sollte ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag mehr bringen als die derzeit mehr als 100 existierenden Tarifverträge in der Altenpflege? Der Haken daran: Alle sind – mit Ausnahme des Bremer Beispiels – auf einen Träger oder auf eine Einrichtung beschränkt. „Hier ist eine Reform dringend geboten“, sagt Kettler, denn für Beschäftigte ist die Tarifsituation uneinheitlich und völlig unübersichtlich. Und es gilt: Je kleiner und individueller ein Tarifvertrag angelegt ist, desto stärker bestimmt der Arbeitgeber, was im Vertrag fixiert wird – und was eben nicht. Ob in einer Einrichtung oder Unternehmen gute Löhne bezahlt werden, hängt dann wesentlich vom Kräfteverhältnis der beteiligten Tarifpartner vor Ort ab. Das Problem für die Beschäftigten: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der Pflege ist niedrig, sieht man von einigen großen Unternehmen ab. Je nach Einrichtung liegt er im unteren einstelligen Prozentbereich, in vielen Altenheimen ist die Gewerkschaft ver.di nahezu nicht existent. Lokale Mitarbeitervertretungen scheuen jedoch häufig die Eskalation mit dem Arbeitgeber – nicht selten aus Angst um den eigenen Job.

Nachteile für Pflegehelfer und regional gebundene Pflegefachkräfte

Ohne reale Gegenmacht auf der Beschäftigtenseite kann der Arbeitgeber vor allem den nicht examinierten Pflegekräften schnell die Arbeitsbedingungen diktieren, die in der Altenpflege immerhin rund 60 Prozent der Beschäftigten stellen. „Das gilt aber auch für jene Examinierte, die aus familiären oder regionalen Gründen nicht unendlich flexibel bei der Jobsuche sein können“, sagt ver.di-Sprecher Jan Jurczyk. Eine Ausnahme sind examinierte Pflegefachkräfte mit Zusatzqualifikationen, die sehr mobil sind. Sie können bei ausreichendem Verhandlungsgeschick und großer Mobilität inzwischen mehr herausholen als über den Tarif. Bei einem allgemeinverbindlich erklärten Pflegetarif würden hingegen Beschäftigte in der Breite profitieren, da weit mehr als nur das Gehalt fixiert würde. Geregelt werden darin zum Beispiel Fragen wie der Jahresurlaub, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Zulagen oder Regelungen zur beruflichen Weiterbildung. Selbst die vereinbarten Tariflöhne liegen in der Regel deutlich über dem Mindestlohn.

Ein Problem: Nur wenige sind Gewerkschaftsmitglied

Bleibt nur ein entscheidendes Problem: Das Arbeitgeberlager ist zersplittert, das Arbeitnehmerlager kaum organisiert. Deshalb kann es keinen Flächentarif geben. Das Bundesarbeitsministerium oder die entsprechenden Ministerien der Länder müssten nun eine bestehende tarifliche Lösung offiziell für allgemeinverbindlich erklären. Das ist nach bestehender Rechtslage jedoch kompliziert, auch weil es dafür eigentlich eines bestehenden Flächentarifvertrages bedarf. Das scheitert bislang am Veto der privaten Arbeitgeber.

Brüderle: Warum eingreifen? Gehälter sind doch gestiegen

Die privaten Arbeitgeber profitieren von der aktuellen Situation. „Das regelt der Markt am besten selbst, denn es Sache der jeweiligen Tarifpartner“, sagt Olaf Bentlage, Sprecher des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). Starre Tariflösungen seien ein Eingriff in die Tarifautonomie und würden gerade die kleinen Träger im Wettbewerb übermäßig belasten. „Sein Verband fordere daher „flexible“ und „individuelle“ Lösungen, schließlich sei in der Branche vom großen Konzern bis zum kleinen Altenheimbetreiber alles vertreten. Verbandspräsident Rainer Brüderle, ehemaliger Chef der FDP-Fraktion im Bundestag, verweist auch gern auf den aktuellen Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit. Danach seien zuletzt die Gehälter in der Altenpflege stärker gestiegen als in anderen Berufen, die Entwicklung positiv. Warum also eingreifen?

Furcht vor Finanzinvestoren

Gero Keppler von der AWO hält das für Augenwischerei. Brüderles Angaben würden lediglich für neue Arbeitsverhältnisse gelten; für die breite Masse der Pflegekräfte ändere sich substanziell kaum etwas. „Angesichts des Fachkräftemangels und des demographischen Wandels könne wir uns das aber nicht länger leisten.“ Vor allem, seit nun auch Finanzinvestoren die Pflege als lohnende Anlage entdeckt hätten. Damit könnte der Wettbewerb über die Löhne und nicht über die Qualität der Pflege weiter angeheizt werden. Das heißt: Hilfskräfte und regional gebundene Pflegekräfte könnten weiter benachteiligt und der Kampf um flexible, mobile Fachkräfte zusätzlich befeuert werden. Seit einiger Zeit führen deshalb ver.di und freie Wohlfahrtsträger Gespräche „über die Schaffung einer flächendeckenden, tariflichen Lösung für die Altenpflege“, heißt es dazu bei ver.di schmallippig. Allen Beteiligten sei klar, „dass eine Lösung im Sinne der Pflegebedürftigen und der Beschäftigten zügig erfolgen muss“. Ohne Hilfe aus der Politik wird es aber nicht gehen.

Autor: Guntram Doelfs

Illustration: Götz Wiedenroth

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