pflegen-online: Gibt es sie noch: Die zufriedenen und engagierten Pflegekräfte, die Freude an ihrem Beruf haben?
Christine Vogler: Ja, es gibt engagierte Pflegefachpersonen. Und zwar gibt es unglaublich viele. Nur mit der Zufriedenheit, da gibt es ein Problem. Warum? Weil sich nichts verändert. All die Versprechungen, die gemacht und zum Teil in Gesetze gegossen wurden, verbessern nichts. Wir erleben jeden Tag aufs Neue, dass echte Veränderungsvorschläge ‚wegorganisiert’ werden. Die Pflege bestimmt an keiner Stelle mit: nicht in den Einrichtungen, nicht an übergeordneter Stelle in den Ländern, nicht auf Bundesebene.
Haben Sie dazu ein Beispiel, Frau Vogler?
Ein Beispiel sind die Konsequenzen, die aus der Personalbedarfsbemessung entstehen im Langzeitbereich. Da wird von der Politik ein Gutachten in Auftrag gegeben, das lange erwartet wird. Was passiert dann? Ein Umsetzungshorizont von über fünf Jahren! Man gibt entweder ein Gutachten in Auftrag, nimmt das Ergebnis – und damit auch die Pflegefachpersonen in der Langzeitpflege – ernst und setzt es dann konsequent und zügig um. Oder man lässt sich Zeit. So wie das Bundesgesundheitsministerium es gemacht hat. Die Effekte hätten die Arbeitsbedingungen schnell spürbar verbessert.
Oder auch ein Beispiel aus der KAP. Der DPR legt auf Bitten des BMG ein mit DKG und Verdi erarbeitetes, fundiertes Pflegepersonalbemessungsinstrument vor, das die Pflegepersonalausstattung für die unmittelbare Patientenversorgung in den Krankenhäusern definiert. Aber das BMG als federführendes Ministerium der KAP, ignoriert unseren Vorschlag. Ich sage es mal so: Ihr werdet sie an den Taten erkennen – und an den Taten erkennen wir, dass die Pflege im politischen Bewusstsein keine Relevanz hat.
[Christine Vogler tritt zusammen mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 13. Oktober, 10.30 Uhr, in der Eröffnungsveranstaltung des Deutschen Pflegetags auf – verfolgen Sie die Reden im Livestream!]
Welche Punkte sollte die neue Regierung aus Sicht der Pflege sofort umsetzen?
Gegenfrage: Was brauchen wir dringend? Mehr Personal! Aber wie gewinne ich mehr Personal? Einfache Antwort: Indem ich Pflegekräfte angemessen bezahle und ihnen Kompetenz zubillige. Und zwar Setting übergreifend, damit keine Wanderung zwischen den Bereichen entsteht. Pflegekräfte unterliegen einem ähnlichen „Belastungslevel“ wie beispielsweise Ingenieure. Warum sie dann nicht demgemäß entlohnen und ihnen mehr Kompetenzen geben? Warum dürfen Pflegefachpersonen mit entsprechender Qualifizierung nicht im Rahmen des Pflegeprozesses selbstbestimmt handeln? Warum dürfen sie nicht entscheiden, ob der Patient ein Pflegebett braucht und dieses dann auch selbst verschreiben und organisieren? Oder bei einer Wunde einen Wundverband verschreiben? Bei diesem Gedanken steht nicht die Verschreibung im Vordergrund, sondern es geht darum, dass Pflegefachpersonen kompetent im Rahmen des Pflegeprozesses handeln und final auch die Verantwortung übernehmen dürfen. Das würde den Beruf in allen Settings attraktiver machen und auch die Versorgungsqualität verbessern!
Vor der Bundestagswahl wurde ja mal wieder gefordert, Langzeitarbeitslose für die Pflege zu rekrutieren. Warum hält sich die Auffassung, Pflege könne jeder, so hartnäckig in den Köpfen vieler Politikerinnen und Politiker?
Ich werde nicht müde zu sagen, dass Pflege eine professionelle Tätigkeit ist, für die Menschen eine lange Ausbildungszeit absolvieren. Kommt nicht ausreichend qualifiziertes Personal zum Einsatz, sind Patienten und Bewohner in Gefahr. Die immer wieder vorgebrachten Vorschläge sind Ausdruck der mangelnden politischen Einstellung gegenüber der Pflegeprofession, sagt aber auch viel über die Haltung des Absenders gegenüber den Bedürftigen in unserer Gesellschaft aus.
Interview: Kerstin Werner
Das Interview erschien zuerst in der Kongresszeitung zum Deutschen Pflegetag 2021.