Foto: Maren Schlenker
Viele Auszubildende in der Pflege fühlen sich während ihrer Praxiseinsätze auf gewisse Weise obdachlos.    

Generalistik

Warum brechen jetzt so viele ihre Ausbildung ab?

Ja, es hängt mit der Generalistik zusammen. Aber warum? Dr. Ursula Kriesten, Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, hat eine plausible Erklärung: das verflixte zweite Jahr. Ein Kommentar   

Das Pflegeberufegesetz sollte die Pflegeausbildung attraktiver machen. Ob etwas attraktiv ist, entscheidet aber die Betroffene oder der Betroffene selbst. An der Generalistik zeigt sich einmal wieder, wie wichtig Empathie ist: Sich einfach mal in die hineinversetzen, für die es gedacht ist.

Aber von vorn: Die generalistische Pflegeausbildung ist eingeführt, erste staatliche Prüfungen finden statt. Leider geht die Zahl der Auszubildenden zurück: Erstens, weil weniger Schulabgänger die Pflegeausbildung beginnen, zweitens, weil mehr Auszubildende die Ausbildung abbrechen.

Das verflixte zweite Ausbildungsjahr

Mir geht es um die Ausbildungsabbrüche. Hier lohnt es sich, ein Augenmerk auf das zweite Ausbildungsjahr in der generalistischen Pflegeausbildung zu richten. Was genau passiert im 2. Ausbildungsjahr und warum steigen hier viele aus?

Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:

Die Pflichteinsätze im zweiten Ausbildungsjahr finden in der stationären Akut- oder Altenpflege, der ambulanten Pflege sowie in der pädiatrischen Versorgung (Kindergarten, Kita, etc.) statt. Je nachdem, in welchem Versorgungsbereich der Orientierungseinsatz stattgefunden hat (Akutpflege, Altenpflege oder Kinderkrankenpflege) bringen sie mehr oder weniger Vorwissen und Erfahrung für die Pflichteinsätze mit. Die Pflichteinsätze, zur Erklärung, haben tatsächlich etwas Pflichtgemäßes: Sie müssen sein, nachdem die Auszubildenden im ersten Jahr in ihrem selbstgewählten Orientierungsbereich gearbeitet haben.     

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Seit Januar 2020 steht die Praxisanleitung in der Pflege auf neuen Füßen:
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Die Crux: Im zweiten Jahr durchlaufen die Auszubildenden verschiedene Einsatzorte und werden dort nur bedingt unter Anleitung eingearbeitet. Häufig stehen sie ohne Vorerfahrung einer komplexen Pflegearbeit und rahmengebenden Herausforderungen gegenüber. Denn der Bereich ist fast immer völlig neu für sie.

Oft heißt es: „Du bist doch schon im zweiten Ausbildungsjahr!“

Den Kolleginnen und Kollegen vor Ort ist das aber gar nicht klar. So bekommen die Auszubildenden von ihnen oft zu hören: „Du bist doch schon im zweiten Ausbildungsjahr.“ Ein wenig motivierender Satz, in dem sich die Erwartung äußert, dass die Auszubildenden jetzt schon selbstständig Pflegetätigkeiten übernehmen könnten.

Da baut sich also Druck auf, zumal am Ende des zweiten Ausbildungsjahres die Zwischenprüfung steht. „Im zweiten Ausbildungsjahr brechen Auszubildende die Ausbildung ab und wir erfahren erst Wochen später davon“, sagt die Leiterin einer Pflegeschule. Leider treten längst nicht alle Auszubildende an die Pflegeschule heran, wenn in ihnen die Entscheidung reift, die Ausbildung abzubrechen.

Den Auszubildenden geht die Bindung zum Träger verloren  

Die Pflegeschulen wiederum erkennen meistens nicht rechtzeitig die Zeichen eines bevorstehenden Ausbildungsabbruchs. Sie steuern nicht gegen, weil sie nicht informiert wurden oder sie betrachten die Auszubildenden aus der Perspektive der Praxis: „Wer den Belastungen für den Beruf nicht standhält, ist für den Beruf nicht geeignet."

Weil die Auszubildenden für die Pflichteinsätze mehrfach die Einrichtung wechseln (und nicht nur die Abteilung oder den Wohnbereich), geht auch die Anbindung an ihren eigentlichen Ausbildungsträger verloren, ganz zu schweigen von der Identifikation mit dem Betrieb. Die Generalistik birgt somit die Gefahr, dass Auszubildende der Pflege im übertragenen Sinne obdachlos werden.

Häufiger Tenor unter Auszubildenden: Wir sind nur Lückenbüßer

Gleichzeitig berichten Ausbildungsträger von Schwierigkeiten, externe ausbildende Pflegeeinrichtungen zur Kooperation zu finden. So entsteht eine Gemengelage aus: fehlenden Einsatzorten, fehlender Praxisanleitung und Einarbeitung, hoher Belastung, Desinteresse an bestimmten Settings, Praxisschock – und oft dazu noch mangelnden Deutschkenntnissen trotz B2-Niveau.

Hinzu kommt, dass die Anforderungen in der generalistischen Pflegeausbildung hoch sind: exemplarisches Lernen und Fokussierung auf typische Lernsituationen. Am Ende der Ausbildung sollen die Auszubildenden handlungskompetent sein. „Theoretisch soll man sich das meiste selbst erarbeiten und in der Praxis ist man im Grunde überflüssig und störend wenn man nicht wie eine Fachkraft arbeitet. Keiner hat Zeit für einen, wir sind die Lückenbüßer. Das hat nichts mit Ausbildung zu tun“, so der Tenor unter vielen Auszubildenden im zweiten Jahr.

Manche Auszubildende suchen ihr Glück im Trägerwechsel

Andererseits kommt es auch vor, dass Ausbildungsträger mit Trägerwechsel locken und mit Zusatzleistungen, freiem Wochenende etc. werben. Einige Auszubildende nehmen die bürokratischen Hürden eines Trägerwechsels tatsächlich auf sich, nur um nach wenigen Monaten erneut desillusioniert zu sein. „Auch hier gab es keine Praxisanleitung. Auch hier werden Dinge von uns erwartet, die wir nicht gelernt und nicht verantworten können“, berichten Auszubildende, die gewechselt haben.

5 Vorschläge für eine bessere praktische Pflegeausbildung  

Die Liste, wie Träger der praktischen Ausbildung und Teams in den Praxiseinsatzorten dem Ausbildungsabbruch vorbeugen können, ist lang:

  • Dem Thema Ausbildung grundsätzlich positiv begegnen
  • Ausbildungsverbünde bilden
  • Ressourcen von größeren Einrichtungen nutzen
  • Ein neues gemeinsames Pflegeverständnis entwickeln
  • Sich beraten lassen oder ein gemeinsames Leitbild zum Thema Ausbildung im Ausbildungsverbund entwickeln.

Diese Vorschläge werden leider nicht umgesetzt. Wegen Personalmangels, aber auch aus Überforderung, bedingt durch die Masse an Auszubildenden, die in ihren Pflichteinsätzen „durchgeschleust werden müssen“, ohne dass sie einen nennenswerten Mehrwert für die Pflegeeinrichtung oder Patienten, Bewohner oder zu betreuenden Kindern (Kita, Praxis beim Kinderarzt, Pflegeheim usw.) haben.

Die Belastungen für alle Beteiligten scheinen herausfordernder, als gedacht zu sein.

Wer in dieser Situation bislang gar nicht gefragt wurde, sind die Patienten und Bewohner. Wie gestaltet sich bei solchen Ausbildungsstrukturen der Mehrwert, die Vertrauensbildung, die Beziehungsgestaltung und das Lernen?

Fest steht: Wir können die Generalistik nicht abschaffen. Doch wir müssen angesichts der Diagnose „Das verflixte zweite Ausbildungsjahr“ unbedingt handeln.

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„Eigene Auszubildende“ gut begleiten  

Wenn Ausbildungsträger und Pflegeschulen die „eigenen Auszubildenden“ auch während der externen Praxiseinsätze strukturiert begleiten, kann das eine positive Wirkung haben und Abbrüche vermeiden.

Das Pflegeberufegesetz und die Pflege-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung sollten optimiert werden. Die Strukturen in der praktischen Pflegeausbildung müssen die Arbeits-, Ausbildungs- und Geschäftsprozesse von Pflegeeinrichtungen berücksichtigen. Flexiblere spezifische Wahlmöglichkeiten für berufliche und hochschulische Auszubildende sind nötig. Es sollten weniger die Sektoren der Pflegeanbieter, als die Bedürfnisse der Patienten und Bewohner berücksichtigt werden. Vor allem muss die praktische Pflegeausbildung einem berufs- und bildungsethischen Anspruch entsprechen.

Künftig darf die Pflegeberufereform keine Verliererinnen und Verlierer mehr produzieren. Vielmehr muss der Outcome der Pflegeausbildung den realen Pflegesituationen und -bedürfnissen entsprechen. Nur so ist es möglich, im  verflixten zweiten Ausbildungsjahr der Pflege die „generalistische Obdachlosigkeit“ zu vermeiden.

 Über Ursula Kriesten

Die Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin (MBA) arbeitet als Hochschuldozentin und hat im Schlütersche Verlag eine Reihe von Büchern veröffentlicht über kollegiale Fallberatung, Kommunizieren und Führen in der Pflege und Praxisanleitung in der Generalistik

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