Die Bewohnerin eines sächsischen Pflegeheims, orientiert und mobil, erzählte ihrer Tochter am Telefon, sie habe starke Schmerzen im Oberkörper. Schmerzmittel habe sie schon genommen, nun warte sie auf den Arzt. Der sei für den Nachmittag angekündigt. Doch der Arzt kam nicht. Stattdessen erhielt die 86-Jährige am Abend gegen ihre immer stärker werdenden Schmerzen abermals ein Analgetikum. Sie starb in der Nacht an den Folgen eines unbehandelten Herzinfarkts.
Vielleicht hätte dieser Tod mit Telemedizin verhindert werden können. Dass telemedizinische Lösungen die Pflege von Heimbewohnern sicherer machen, das ermittelten jetzt Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane (MHB) durch einen Feldversuch in Südbrandenburg.
Da werden Faxe mit der Bitte um Rückruf verschickt …
In zwei Pflegeheimen und sieben Arztpraxen im Umland der Städtchen Luckau und Calau ließen sie dafür eine Software für Videosprechstunden installieren. „Wir wollten herausfinden: Welche Probleme gibt es aktuell in der Pflegeheimversorgung? Und welche Prozesse können durch Videosprechstunden verbessert werden?”, so Studienleiterin Susann May, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Versorgungsforschung der MHB. Und schließlich natürlich auch: Wie klappt es im Alltag?
Über zehn Wochen nutzten die Studienteilnehmer die Software, vereinbarten darüber digitale Arztbesuche, tauschten vorab Informationen aus, führten schließlich die Konsultationen per Webcam durch. Schon vor dem Feldversuch hatten die Teilnehmer den Wissenschaftlern in Interviews berichtet, wie ärztliche Heimbesuche normalerweise ablaufen: wie mühsam oder zumindest zeitaufwendig es beispielsweise für die Pflegekräfte ist, einen Arzt zu bestellen, dass oft mehrmalige Anrufe in der Arztpraxis nötig seien, bis sie jemanden erreichen. Und wenn sie ein Fax schicken mit der Bitte um Rückruf, könnten sie nicht sicher sein, noch am selben Tag vom Arzt zu hören.
Ärzte und Pflegekräfte – für alle ist der Besuch nervenzehrend
Wenn die Ärzte dann ins Haus kommen, müssten die Pflegenden ihre Arbeit unterbrechen, sie zu dem betroffenen Heimbewohner führen. „Das passiert nicht selten zu den Hochzeiten, etwa zur Zeit des Mittagessens”, gibt eine Pflegekraft zu Protokoll. „Ich muss mich dann also entscheiden, ob ich den Arzt begleite oder weiter den Bewohnern ihre Mittagsmedizin ausgebe. Und wenn ich mich für letzteres entscheide, hängt der Arzt zehn Minuten herum und wartet auf mich.”
Die Kontaktaufnahme ist zeitaufwendig und kompliziert
Von diesen Wartezeiten berichten auch die befragten Mediziner. Doch schon im Vorfeld ginge für sie Zeit verloren, etwa, wenn sie als Reaktion auf ein empfangenes Fax aus dem Heim oder einen notierten Anruf versuchten, die zuständige Pflegekraft zu erreichen oder ausfindig zu machen. Zudem schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie von der Gefahr, dass wichtige patienten-relevante Informationen verloren gehen können, zum Beispiel, wenn die Nachricht über einen Anruf aus dem Heim erst von der Arztassistenz übermittelt werden muss. Das Stille-Post-Prinzip – es kann die Patientensicherheit gefährden.
Kein Hinterherlaufen mehr: Jetzt gibt’s feste Videocalls
Mit den Videosprechstunden konnten die Abläufe in den teilnehmenden Heimen und Praxen um einiges verbessert werden. Das liegt vor allem an dem neuen Prozess. Statt die Ärzte im Bedarfsfall einzeln zu kontaktieren, vereinbaren die Heime mit den Medizinern nun feste Zeiten, zu denen sie sich per Videocall zusammenfinden. Meist schlägt der Arzt einen bestimmten Termin pro Woche vor, die Pflegekräfte wiederum prüfen einen Tag vor dem Termin, ob es aktuell Besprechungsbedarf gibt. In diesem Fall schicken sie ihre Fragen und alle relevanten Informationen über bestimmte Patienten an den Arzt; die Software sieht dafür eine entsprechende Funktion vor. Der große Vorteil: Die Ärztin oder der Arzt können sich schon im Vorfeld ein Bild von dem Patienten machen, sie sind also besser vorbereitet, so Susann May. Auch gelangen die Informationen so direkt, ungefiltert und vollständig an den Mediziner. Das Stille-Post-Prinzip ist einmal mehr ausgehebelt.
Während der Videokonferenz selbst gibt die Pflegekraft – im Stationszimmer sitzend, denn hier hat sie auch gleich Zugriff auf alle medizinischen Akten – einen Überblick über den zu besprechenden Fall. Erst anschließend wird der Bewohner, so er mobil ist, ins Zimmer geführt, um über den Monitor mit dem Arzt zu sprechen. Für kranke oder bettlägerige Heimbewohner finden die Konsultationen in deren Zimmern über Tablets statt. Nach der Online-Besprechung verordnet oder ändert die Ärztin oder der Arzt die Therapie, verschreibt etwa neue Medikamente.
Onlinetermin ersetzt 9 Fax-Sendungen
„Der ganze Prozess wird durch die Software beschleunigt”, beschreibt eine Pflegekraft ihre Erfahrungen. „Die gesamte Kommunikation – angefangen bei der Kontaktierung des Arztes über die Besprechung bis hin zur Verschreibung – findet nun in diesem System, zu diesem einen Termin statt. Ein Onlinetermin steht damit gut sieben, acht, manchmal neun Faxaussendungen gegenüber.”
Mit einem Kaffee in der Hand: Ärzte sind viel entspannter
Auch für die Ärzte bedeuten die Heimbesuche per Video ein stressfreieres Arbeiten. Nicht nur, weil sich die Fahrten zu den Einrichtungen erübrigen. „Früher stand ich bei Heimbesuchen sehr unter Druck, habe diesen nicht selten auch an die Pflegekräfte weitergegeben: Kommt schon, Leute, habe ich denen oft gesagt, macht mal hin, ich muss weiter”, erinnert sich ein Arzt. „Heute sitze ich während der Online-Konsultation mit den Pflegekräften und Heimbewohnern in meinem Sessel, trinke dabei auch mal einen Kaffee.”
Videosprechstunden sind nicht unpersönlich
Bleibt die Frage, ob auch die Patienten den Kontakt zum Arzt über einen Bildschirm mögen. Das müsste eine weitere Studie zeigen, so die Wissenschaftler. Doch schon jetzt sei klar, dass über den digitalen visuellen Kontakt sehr wohl eine persönliche Atmosphäre entstehen könne. „Mehr jedenfalls als dies bei einem telefonischen Termin gelingen kann“, heißt es in dem Bericht. Über den Bildschirm könnten die Ärzte ihre Patienten nicht nur visuell untersuchen, etwa Wunden begutachten, sondern auch non-verbale Signale ihrer Patienten empfangen und deuten.
Zu erwähnen ist jedoch auch, dass sich im Laufe der zehn Wochen fünf der anfangs 13 Teilnehmer aus dem Feldversuch verabschiedet haben – aus welchen Beweggründen auch immer. Ob sie vielleicht mit der Software nicht klar kamen, gar negative Erfahrungen gemacht haben, wurde nicht ermittelt.
Jetzt soll die Wirtschaftlichkeit untersucht werden
Die Studienautoren haben derweil schon die nächsten Beteiligten im Blick: Neben der Patientenperspektive soll als nächstes untersucht werden, wie Therapeuten oder Apotheker solche digitalen Videoangebote annehmen. Auch eine wirtschaftliche Betrachtung sei nötig, schließlich bedeute die Anschaffung der Software und gegebenenfalls neuer mobiler Endgeräte oder Webcams eine Investition für die Heime.
Wissenschaftler: Videosprechstunden in Heimalltag integrieren
Ausgehend von den festgehaltenen Erfahrungsberichten jedoch sind die Studienautoren sicher: „Digitale Sprechstunden können persönliche Arztbesuche bestimmt nicht vollständig ersetzen, sind aber eine ernstzunehmende Alternative, die es wert ist, in existierende Strukturen eingebunden zu werden.”
Text: Romy König /kig