pflegen-online: Vor einem Jahr sind Sie in den Vorstand des Errichtungsausschusses der Pflegekammer Niedersachsen gewählt worden, vor gut sechs Wochen zur Präsidentin der frisch gegründeten Kammer. Sie mussten sich recht schnell an die Härten des Kammergeschäfts gewöhnen: Die Kritik und die Anfeindungen, die den Pflegekammern entgegenschlagen, sind ja oft alles andere als sachlich …
Sandra Mehmecke: Klar gibt es teilweise sehr polemische Kritik, das ist etwas, was wir nicht verhindern können. Die betrifft jedes Bundesland. In Bremen etwa ist im Zuge der bevorstehenden Bürgerschaftswahl die Diskussion um Pflegekammer wieder hochgekocht. Und jedes Mal, wenn das passiert, gibt es Kräfte, die dagegen Stimmung machen.
Wir nehmen das jetzt gerade als pflegespezifisch wahr, weil wir uns in der Branche Pflege und Gesundheit bewegen. Aber ich glaube, dass das jedes Politikfeld und jedes Thema betrifft, das neu auf die Agenda gesetzt wird. Jedes Vorhaben, das neu diskutiert wird, ruft Polemik hervor. Das ist das eine. Das andere ist, dass konstruktive Kritik in der Tat berechtigt und erwünscht ist.
Wie meinen Sie das mit der konstruktiven Kritik?
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Kritik per se ist ja eigentlich etwas Positives, nur so können wir weiterkommen. Ich fände es fatal, wenn wir die kritischen Stimmen wegbügeln und nicht mit in die Diskussion und unsere Entscheidungsfindung aufnehmen würden.
Haben Sie ein Beispiel für eine Situation, in der Sie solch eine Kritik aufgegriffen haben oder dachten: Diese Kritik müssen wir uns genauer anhören?
In Niedersachsen ist es gar nicht so einfach, ein Beispiel zu finden. Es kursieren so unglaublich viele Unwahrheiten. Es ist erst mal unsere vordergründige Aufgabe, diese aus dem Weg zu räumen und sachlich darzustellen, wie die Situation tatsächlich ist.
Ein Vorwurf lautet, die Mitglieder der Kammerversammlung seien gar keine Pflegenden, sondern irgendwelche Verbandsvertreter, die irgendwelche Interessen vertreten, nur nicht die der Pflegenden. Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Es gibt ein Potpourri an Pflegefachpersonen: Ein Teil kommt aus der direkten Versorgung im Krankenhaus oder auch aus der stationären Langzeitpflege oder ambulanten Pflege, manche arbeiten im Dreischichtsystem. Natürlich gibt es in der Kammerversammlung auch einen Teil, der in der Pflegepädagogik oder -forschung unterwegs ist.
Andere kritisieren, wir seien alle Lobbyisten. Dazu kann ich nur sagen: Jahrelang wurde bemängelt, die Pflege habe keine Lobby. Nun haben wir die Pflegekammer. Das bedeutet tatsächlich: Ja, wir sind alle Lobbyisten, nämlich für die Pflege, für die Pflegenden und für die zu Pflegenden.
Ein wirklich großer Vorwurf lautet, Pflegefachpersonen müssten mit der Pflegekammer bald ganz viele, überhaupt nicht immer notwendige verpflichtende Fortbildungen leisten. Diese müssten sie dann auch noch selber finanzieren und in ihrer Freizeit ableisten. Die Kritik wäre berechtigt, wäre so etwas tatsächlich geplant. Doch wir haben in Niedersachsen gar nicht die gesetzliche Grundlage, um Pflegende zu von ihnen selbst zu finanzierenden Fortbildungen zu verpflichten. Das ist also eine Fake News, das stimmt einfach nicht.
Aber Sie werden sich um das Thema Fortbildung kümmern?
Die Pflegekammer wird auf lange Sicht die Fortbildung der Pflegefachpersonen in Niedersachsen mit beeinflussen und mit steuern. Das ist aber ein Unterschied – wir werden nicht sofort verpflichtende Fortbildungen einführen. Wie gesagt: Dafür haben wir keine Rechtsgrundlage.
Fortbildungen und weiterqualifizierende Weiterbildungen werden leider oft vermengt. Wir konzentrieren uns jetzt erst einmal auf die Weiterbildungen, die sehr häufig von den Arbeitgebern finanziert werden.
Die Pflegekammern haben nicht nur mit Fake News zu tun: Ihnen weht auch handfestere Kritik von Verdi entgegen. Die Gewerkschaft hat ja sogar auf Bundesebene beschlossen, Kammern kritisch gegenüberzustehen. Deshalb erstaunt es mich, dass acht Mitglieder über die Verdi-Liste in Ihre Kammerversammlung gekommen sind. Das sind fast 26 Prozent der insgesamt 31 Mitglieder im höchsten Gremium der Pflegekammer Niedersachsen. Was ist davon zu halten? Ist das Verdis Marsch durch die Institutionen? Ist damit zu rechnen, dass Verdi auf diesem Wege die Idee der Kammer sabotiert? Es scheint jedenfalls merkwürdig.
Ich finde das gar nicht merkwürdig, ich bin selbst seit Jahren aktives Verdi-Mitglied und auch engagiert im Verdi-Pflegenetzwerk der Medizinischen Hochschule Hannover. Man darf auch nicht vergessen: Das Verdi-Pflegenetzwerk hat sich seit 2012, 2013 sehr für die Einrichtung einer niedersächsischen Pflegekammer eingesetzt.
Der Verdi-Beschluss auf Bundesebene spiegelt nicht die Meinungen aller in Verdi organisierten Pflegekräfte wider. Zwar erkenne auch ich als Verdi-Mitglied diesen Bundesbeschluss an. Andererseits vertrete ich eine andere Meinung. Ich finde es gut, dass es auch bei Verdi Köpfe gibt, die die Pflegekammer kritisch begleiten. Das mag auch bei der einen oder dem anderen so sein, der oder die über die Verdi-Liste in die Kammerversammlung gewählt worden ist. Wie auch immer: Ich würde schätzen, dass von den 31 Mitgliedern der Kammerversammlung mehr als die Hälfte Verdi-Mitglieder sind.
Bei Verdi Mitglied zu sein, ist aber etwas anderes, als über die Verdi-Liste in die Kammerversammlung zu kommen …
Ich finde, dass wir im Moment – und das wird auch in Zukunft so sein – konstruktiv zusammenarbeiten. Und ich sehe eine riesengroße Chance darin. Ich trete seit sehr Langem und jetzt noch viel mehr als zuvor für den Dreiklang ein. Ich bin überzeugt, dass die Pflegekammer gemeinsam mit der Gewerkschaft und den Berufsverbänden unglaublich viel erreichen kann: Was die Verbesserung der Arbeitsbedingungen angeht, aber auch was die Versorgungssituation und Versorgungsqualität der zu Pflegenden betrifft. Das sind zwei Themen, die sich nicht voneinander trennen lassen. Gemeinsam werden wir einfach viel mehr erreichen. Deswegen sehe ich diese starke Verdi-Fraktion, wenn man sie so nennen möchte, in der Kammerversammlung als etwas sehr Positives.
Was man auch nicht vergessen darf: Letztlich vertreten wir in der Kammerversammlung nicht in erster Linie die Institution, für die wir vielleicht auf einer Liste angetreten sind. Wir repräsentieren nicht irgendwelche Verbände, Gewerkschaften oder sonstige Institutionen, sondern die Pflegenden und die zu Pflegenden. Diese Haltung nehme ich bei den allermeisten Mitgliedern der Kammerversammlung wahr. Trotzdem ist es natürlich ein Spannungsfeld, Sie haben es ja selbst angesprochen, aber eine riesengroße Chance – und die ergreifen wir jetzt.
Gibt es so vielleicht in Niedersachsen die Chance, dass dieses ständige Keilen gegen die Pflegekammer, das sich ja auch stark in den Betrieben abspielt, abebbt?
Der Faktor Zeit spielt eine große Rolle. Es geht um gegenseitiges Vertrauen, das lässt sich nur mit der Zeit und den Erfahrungen gewinnen, die wir miteinander sammeln werden. Wir sind in guten Gesprächen mit allen Beteiligten, das geht in eine gute Richtung. Die Pflegekammer wird immer gesprächsbereit sein, auch was die Betriebs- und Personalräte angeht. Wir kommen gerne in Mitarbeiterversammlungen und Ähnliches. Wir sprechen gerne mit Betriebs- und Personalräten auf deren Versammlungen. Es ist mir schon sehr bewusst, dass da immer noch starke Vorbehalte bestehen.
Frank Vilsmeier, Vizepräsident der ebenfalls kürzlich gegründeten Pflegeberufe-kammer Schleswig-Holstein, sagte kürzlich in einem Interview mit pflegen-online, seit Kammergründung sei zu beobachten, wie sich in der Politik die Türen öffneten und die Einbeziehung in Gremien zunehme. Können Sie das bestätigen?
Nun, wir sind erst seit einigen Wochen dabei. Was ich aber sagen kann, ist, dass bei uns in Niedersachsen augenblicklich die Verordnung zum Landespflegeausschuss dahingehend geändert wird, dass die Pflegekammer voraussichtlich ab 1. Januar einen Sitz bekommt. Das ist ein sehr gutes Signal. Ansonsten ist die Pflegekammer Mitglied im Steuerkreis zur Umsetzung des Pflegeberufegesetzes in Niedersachsen. Auch sind wir bereits zu Errichtungsausschuss-Zeiten eingeladen worden, wenn beispielsweise der Sozialausschuss sich zum Thema Pflege beraten hat, darüber hinaus wurden wir um Stellungnahmen gebeten. Gemeinsam mit den drei bestehenden Pflegekammern entsenden wir einen Vertreter in die Arbeitsgruppe „Ausbildung und Qualifizierung“ der Konzertierten Aktion Pflege.
Ja, ich kann sagen: Die Türen sind geöffnet und man ist offensichtlich sehr dankbar, dass es uns gibt. Ein Gewinn für alle ist das Pflegefachberuferegister, was die Pflegekammer Niedersachsen aufbaut. Aus den Daten lassen sich Schlüsse ziehen, die teilweise auch für die Entscheider überraschend sein werden.
Können Sie ein Beispiel für einen interessanten Befund aus Ihrem Pflegefachberuferegister nennen?
Wir haben noch nicht alle bereits vorliegenden Datensätze in der Tiefe aufgearbeitet. Aber es dauert nicht mehr lange, dann können wir sagen: In der Region XY in Niedersachsen arbeiten so und so viele registrierte Pflegefachpersonen, davon so und so viele in der stationären Langzeitpflege, so und so viele haben einen Abschluss in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, so und so viele in der Gesundheits- und Krankenpflege und so und so viele in der Altenpflege. Das ist sehr, sehr wertvoll. Wir können dann auch darüber Aussagen treffen, wie der Altersdurchschnitt der Pflegefachpersonen ist, und wie hoch der Personalbedarf in X Jahren sein wird. Solche Aussagen treffen zu können, ist extrem wertvoll.
Interessant werden auch Ländervergleiche mit Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sein. Die Daten werden uns sehr bei der Entwicklung von Konzepten und bei unserer Argumentation helfen. Im Übrigen zeigen wir durch unsere Daten jetzt schon, dass wir Wirkung entfalten, was ja für die Evaluation, die in zwei Jahren ansteht, nicht unwichtig ist.
Wollen Sie sich auch in versorgungspolitische Fragen einschalten?
Unbedingt! Das ist ein Mega-Zukunftsthema. Da werden wir uns auf jeden Fall be-teiligen. Es geht dabei auch um die Frage, welche Aufgaben qualifizierte Pflegefachpersonen übernehmen können, gerade in der Primärversorgung. Das ist sehr wichtig, obgleich unsere ärztlichen Kolleginnen und Kollegen da teilweise noch eine andere Auffassung haben. Doch wir müssen uns gemeinsam hinsetzen und über Aufgabenneuverteilung reden. Das beinhaltet dann auch Substitution oder sogar Allokation und nicht nur die Delegation von Aufgaben. Es wird auch um die Finanzierung gehen.
Ich wünsche mir, dass wir das gemeinsam schaffen: Alle zusammen als Partner aus der Perspektive der Betroffenen auf die Versorgungssituation zu gucken und dann gemeinsam zu überlegen, wie die Aufgaben neu verteilt werden. Ich persönlich glaube, dass wir in Zukunft nicht mehr sagen können: Eine Berufsgruppe hat vorbehaltlich Aufgabe XYZ und niemand anderes darf diese verantwortlich ausführen. Das werden wir uns in Zukunft nicht mehr leisten können.
Gerade was die Primärversorgung betrifft: Die frühere Gemeindeschwester war ein gutes Konzept – auch heute gibt es sehr gute Modellprojekte. Das ist aber eben das Problem: dass sie im Modellcharakter verhaftet bleiben. Das wollen wir ändern, wir werden uns deshalb in Niedersachsen mit voller Kraft einmischen.
Interview: Kirsten Gaede
Foto: PKNDS Claudia Levetzow
Sandra Mehmecke
Die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen hat von 2000 bis 2003 an der Medizinischen Hochschule Hannover ihre Krankenpflege-Ausbildung absolviert und anschließend in der Klinik für Neurologie der MHH gearbeitet. 2012 begann Sandra Mehmecke berufsbegleitend ein Master-Studium in Management für Pflege- und Gesundheitsberufe. Seither arbeitet sie an verschiedenen wissenschaftlichen Projekten mit – etwa zu der Frage, wie Menschen mit seltenen Erkrankungen ihren Weg zur Diagnose erleben. Außerdem ist die 35-Jährige Lehrbeauftragte für Bachelor-Studiengänge.