Symbole wie Kerzen und Steine können Trauernden helfen, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.
Foto: Canva
Symbole wie Kerzen und Steine können Trauernden helfen, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben.

Sterben

Über das Trauern in der Corona-Pandemie

Nicht dabei sein können, wenn die liebsten Menschen sterben: Das mussten in der Pandemie viele Angehörige erleben – und Pflegekräfte miterleben. Eine Seelsorgerin erklärt, was Betroffenen helfen kann

Interview mit der Pastorin und Seelsorgerin Ute Reckzeh

Frau Reckzeh, Sie geben regelmäßig Fortbildungen zum Thema Tod, Sterben und Trauern in Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen. Können Sie einschätzen, wie oft es vorkommt, dass Angehörige einen Verlust ohne Abschied bewältigen müssen?

Ute Reckzeh: Speziell für die Corona-Zeit haben wir dazu leider keine Zahlen. Aber es ist bereits im normalen Alltag überhaupt nicht selten, dass Menschen sich nicht von Sterbenden verabschieden können. Aus ganz unterschiedlichen Gründen: Zum Beispiel liegt jemand selbst im Krankenhaus. Oder es verstirbt jemand im Ausland, ertrinkt, verbrennt, wird gekidnappt, verschwindet. In meiner Arbeit begegne ich oft Betroffenen, weil sie Patienten bei uns sind oder Mitarbeitende, die mich ansprechen. Immer wieder habe ich auch mit Menschen zu tun, die schon lange keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie haben und dann vielleicht auch nur verspätet vom Tod eines Angehörigen erfahren.

Haben Sie persönlich unter Corona-Bedingungen in Ihrer Pflegeeinrichtung Fälle erlebt, wo Menschen sich aus medizinischen Vorsichtsgründen nicht verabschieden konnten? Wo Sie dann vielleicht auch Angehörige trösten mussten, die abgewiesen wurden? 

Ja, das gab es durchaus.

Und was konnten Sie den Angehörigen anbieten?

Zunächst ist es wichtig, den Angehörigen zuzuhören und den Gefühlen Raum zu geben, die da sind. Wir regen immer, aber auch gerade auch in solchen Fällen an, dass wir im jeweiligen Wohnbereich oder auch im Krankenhaus noch einmal eine Gedenkfeier anbieten. Dass man da auf jeden Fall noch einmal zusammenkommt, ein Bild aufstellt, eine Kerze. Und sich gemeinsam mit den Mitbewohnern und den Mitarbeitenden erinnert, betet, einen Segen spricht und nochmal gemeinsam über die Verstorbenen ins Gespräch kommt.

Und natürlich laden die Kirchengemeinden zu Totensonntag die Angehörigen von Menschen, die im letzten Jahr verstorben sind, ein: zu einem Gottesdienst mit Gedenken, Verlesung der Namen und Kerzen anzünden. Das machen wir im Altersheim auch. Allerdings unter Corona-Bedingungen immer noch getrennt für Bewohnerinnen und Angehörige.

Wie findet aktuell das Sterben in Ihrer Pflegeeinrichtung statt? Haben Angehörige wieder unbeschränkten Zugang zu den Bewohnerinnen?

Das ist immer noch in jeder Einrichtung ein bisschen unterschiedlich. Bei uns ist es inzwischen schon so, dass jemand auch dann besucht werden kann, wenn er Corona hat und im Sterben liegt. Das würden wir nach Rücksprache mit dem Gesundheitsamt möglich machen. Es würden dann die jeweiligen Schutzmaßnahmen gelten. Die Angehörigen dürfen sich verabschieden. Es wird schon versucht, der Trauer Raum zu geben.

Aber die Angst vor Corona ist immer noch groß.

Ja, gleichzeitig ist allen deutlich geworden, wie schwer es für Angehörige war, die sich nicht verabschieden durften. Da schaut man schon heute bei jedem einzelnen Fall: wie können wir das besser organisieren. Trotzdem kommt es auch heute immer noch zu Besuchseinschränkungen, wenn in einem bestimmten Wohnbereich Corona ausgebrochen ist. Die Sorge ist einfach nach wie vor groß, dass man sich wieder eine Welle ins Haus holt. Das wird uns auch noch weiter beschäftigen – und vor die Frage stellen, wie wir das bestmöglich handhaben.

Die Belegschaft in den Einrichtungen ist wegen der Pandemie nach wie vor am Limit. Ich kann natürlich die Angehörigen verstehen, genauso wie die Bewohnerinnen, die keinen Besuch kriegen können. Das ist einfach eine Katastrophe.

Haben Sie Erfahrungen mit digitalen Lösungen gemacht, wie zum Beispiel Videochat über das Tablet? Sind das Kommunikationsmittel, die auch funktionieren, wenn es um die letzten Gespräche geht?

Jemand, der im Sterben liegt, ist oft gar nicht mehr so präsent, schon nicht mehr ganz hier in der Welt. Und so jemand kann sich dann ja oft gar nicht mehr artikulieren, nicht mehr gut hören und sehen. Ich weiß, dass digitale Mittel in einigen Krankenhäusern ausprobiert werden, zum Beispiel im Bereich der Seelsorge auf Palliativstationen. Aber im Sterbeprozess kommt man damit schnell an Grenzen.

Das Telefon kann für eine Weile noch eine gewisse Möglichkeit sein, um Kontakt zu weit entfernt lebenden Angehörigen zu ermöglichen. Aber wenn es zu Ende geht, geht es oft darum, einfach nur die Hand zu halten, da zu sein. Da ist einfach eine Grenze in Bezug auf digitale Kommunikation

Ganz allgemein: Was hilft Menschen beim Trauern?

Zwei allgemeine Dinge lassen sich über die Trauer sagen: Sie ist immer individuell. Und: ehe man Trauer bewältigt, vergeht viel mehr Zeit, als man so im Allgemeinen denkt. Man geht ja oft von einem Trauerjahr aus, aber es dauert tatsächlich eher drei bis fünf Jahre, bis Trauer wirklich verarbeitet ist. Es kann sogar noch länger dauern. Der Schmerz ist dann nicht mehr so stark wie am Anfang, aber trotzdem ist er immer noch spürbar.

Wie wichtig ist die persönliche Verabschiedung für den Trauerprozess?

Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben im Trauerprozess ist, dass man den Tod begreift. Das Wort „begreifen“ legt ja schon nahe, dass man etwas anfasst, greift und berührt. Und es ist tatsächlich wichtig und hilfreich, wenn man den Toten anschauen und anfassen kann. Sich von dem Körper des anderen verabschiedet, spürt, da ist jemand ist kalt, steif geworden, nicht mehr am Leben.

Wichtig ist auch, dass die vorhandenen Gefühle Raum bekommen und sein dürfen. Das kann Traurigkeit sein, Schuld, aber auch Wut – auf denjenigen, der da gestorben ist, auch wenn er dafür nichts kann, auf den Tod an sich oder auf andere, die das nicht verhindern konnten. Und es ist gut, wenn jemand da ist, der diese Gefühle mit aushält oder sogar dabei unterstützt, dass sie raus dürfen, ja überhaupt gespürt und auch akzeptiert werden. Auch für diese Begegnung mit den Gefühlen ist die physische Verabschiedung vom Verstorbenen oft ein wichtiger Auslöser.

Und das ist natürlich in den Situationen, in denen man sich nicht verabschieden kann, alles nicht möglich. Mit welchen Folgen?

Es macht den Trauerprozess anstrengender, belastender. Weil man den Tod eines Menschen realisieren muss, ohne dass sich in der Außenwelt sichtbar oder spürbar etwas verändert hat. Es kommt öfter vor, dass Betroffenen der Kopf einen Streich spielt: Zum Beispiel, dass man immer wieder denkt: ach, der andere kommt jetzt nach Hause, ich höre Schritte oder ich höre sein Auto. Und dann immer wieder der Moment der gedanklichen Realisierung: ach nee, doch nicht. Er ist doch tot. Das ist immer wieder ein schmerzhafter Schritt, sich das klarzumachen. Es fehlt das eindringliche Erlebnis, der bewusste Abschied.

Was empfehlen Sie Angehörigen, die aus welchen Gründen auch immer nicht Abschied nehmen konnten?

Es gibt ja verschiedene Wege, Abschied zu nehmen. Manchmal besteht noch die Möglichkeit, den Toten beim Bestatter zu sehen. Auch die Beerdigung ist eine Chance, den Sarg oder die Urne zu sehen und vielleicht auch noch einmal anzufassen. Schwierig ist, dass heute viele Menschen gar keine Trauerfeier mehr wollen. Das erschwert das Ankommen in der neuen Realität.

Wenn es ein Grab gibt, würde ich mir unbedingt die Zeit nehmen und dort noch einmal mit dem Verstorbenen ins Gespräch gehen. Sagen, was noch gesagt werden sollte. Dankbarkeit zur Sprache bringen, aber auch Schwieriges ansprechen, Ärger loswerden, auch über das, was nicht gelungen ist. Alles kann in so einem Dialog am Grab zur Sprache kommen. Wenn es kein Grab gibt, kann man sich auch zuhause ein Bild aufstellen, um ein Gegenüber zu haben. Oder man schreibt einen Brief, und liest ihn dann dem Verstorbenen vor.

Wie geben Sie als Seelsorgerin Impulse zum Abschiednehmen?

Ich arbeite gern mit Symbolen. Ich zünde eine Kerze an, lasse auch die trauernde Person Kerzen anzünden. Außerdem habe ich oft Steine und Herzen dabei, und bitte den anderen dann auf einem Tuch, wo die Kerze steht kleine Steine abzulegen, symbolisch für alles, was besonders belastet. Herzen hinzulegen für Liebe und Freundschaft, für das, wofür man dankbar ist.

Ich habe auch Federn dabei, für das, was die Beziehung leicht gemacht hat, was schön war. Das setzt oft Gefühle und damit auch die Sprache frei, um alles noch einmal zu sagen, was gesagt werden sollte. Oder ich bringe Musikinstrumente mit, wenn Menschen sich vielleicht nicht so gut mit Worten ausdrücken können, aber mit den verschiedenen Instrumenten zu ihrer emotionalen Sprache finden.

Sie sagten es gerade: heute findet oft nicht einmal mehr eine Trauerfeier statt. Wie finden denn Menschen, die vielleicht vor ein zwei Jahren jemanden verloren haben, und merken, sie kommen damit auch jetzt immer noch nicht gut klar, seelsorgerische Begleitung?

Trauerverarbeitung verläuft oft in einer Spirale. Man ist nicht immer direkt im Anschluss an den Tod von jemandem innerlich tatsächlich bereit, die Trauer zu durchleben. Das ist in Ordnung so, jeder und jede ist frei, diese Themen dann aufzunehmen, wenn sie wirklich passen. Wenn das etwas später passiert und der Tod des Angehörigen schon länger zurückliegt, ist eine Trauergruppe oft eine gute Anlaufstation. Oft wird so etwas von Beratungsstellen, Kirchengemeinden oder Bestattern angeboten, es gibt auch virtuelle Trauergruppen im Netz. Möglich ist natürlich auch, eine Pastorin, Pastor, eine Seelsorgerin anzusprechen. Die haben in der Regel immer ein offenes Ohr, wenn jemand in Not ist.

Interview: Kirsten Wenzel

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Selbsthilfegruppen für Trauernde in der Corona-Pandemie

Es gibt spezielle Selbsthilfegruppen für Trauernde, die sich während der Corona-Pandemie von geliebten Menschen nicht verabschieden konnten: https://www.seko-bayern.de/wissenswertes/selbsthilfe-und-corona/sonstige-pressemeldungen-artikel/trauernetzwerk/

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Über Ute Reckzeh

Die Pastorin arbeitet als Seelsorgerin in der Stiftung Das Rauhe Haus in Hamburg, einer Einrichtung der Diakonie mit Bereichen für Kinder und Jugendliche, Menschen mit Assistenzbedarf, Sozial-Psychiatrie sowie einem Alten- und Pflegeheim. Ute Reckzeh gibt regelmäßig Fortbildungen zum Thema Tod, Sterben und Trauern in Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen.

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