Wenn Menschen über 60 zu Suizid neigen, nimmt die Umgebung dies oft nicht wahr: Sie deutet die Symptome falsch oder unterschätzt sie. Dabei sind Suizide bei älteren Menschen nicht einmal selten. 47 Prozent aller Suizide im Jahr 2018 wurden von Frauen und Männern ab 60 Jahren vollzogen. Fast die Hälfte der 9.396 registrierten Suizide in Deutschland haben Menschen im Altern von 60plus vollzogen. Laut den Angaben des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2018 waren dies 3.323 Männer (67,1 Prozent) und 1.093 Frauen (32,9 Prozent) im Alter von 60plus. Die höchsten Suizidraten haben die Alterskohorten der 75- bis 80- und 80- bis 85-Jährigen.
Auch wenn Suizide im Alter häufig sind: Demenz, demenzielle Veränderungen oder eine schwere Krankheit treiben das Suizid-Risiko nicht auffällig in die Höhe. Suizide nähmen mit zunehmender Schwere der Erkrankungen sogar eher ab, sagt der Gerontologe Uwe Sperling vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro).
Suizidversuche lassen sich statistisch nur schwer erheben. Experten schätzen, die Rate der Suizidversuche bei älteren Männern etwa bei 50, bei älteren Frauen bei 30 pro 100.000 Einwohner.
Ursachen für einen Suizid
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Hinter einem Suizid verbirgt sich meistens ein ganzes Bündel an Ursachen, die den Betroffenen schon über länger intensiv beschäftigt haben. Auslöser für einen Suizid können sein:
- schwere körperliche Krankheit
- der Verlust wichtiger Lebensgefährten
- größere soziale Einschnitte (Arbeitslosigkeit, Schulden)
- mangelnde seelische Widerstandsfähigkeit während kritischer Lebensereignisse und bei Lebensübergängen (etwa in den Ruhestand)
- Angst vor dem Verlust der Selbstbestimmung, etwa im Falle von Pflegebedürftigkeit
- weitere mögliche Beweggründe: die Angst, das gewohnte Leben nicht mehr weiterführen zu können, hinter den eigenen Erwartungen zurückzubleiben oder die soziale Anerkennung beispielsweise durch die Entstellung des eigenen Körpers hinnehmen zu müssen oder eine Last für andere zu sein
- Auch unangenehm zu behandelnde Erkrankungen oder unerwünschte Medikamenten-Nebenwirkungen können einen Suizid begünstigen, verstärken oder auslösen
„Suizid ist sehr oft eine Verzweiflungstat, die sich ankündigt und eine Er-Lösung für einen Zustand sein soll, den man so nicht länger aushalten kann oder will“, erklärt Sperling. Oft handele es sich aber auch um einen ernstzunehmenden Appell, der auf die eigene, ausweglos scheinende Situation hinweisen soll, so der Gerontologe. „Der autonome Bilanzsuizid ist da eher die Ausnahme.“
Ein zentrales Problem: soziale Isolation
Für ältere und älter werdende Menschen ist es nicht immer einfach, für sich selbst befriedigende, soziale Rollen zu definieren und zu entwickeln. Bisherige soziale und kulturelle Teilhabemöglichkeiten können zurückgehen oder sich massiv schmälern, wenn nahe Familienangehörige, Freunde und Nachbarn wegziehen oder sterben, die eigenen körperlichen und psychischen Einschränkungen ihnen ein Schnippchen schlagen oder die finanziellen Mittel begrenzt sind. Die Kontaktverbote im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie können ebenfalls dazu führen, dass alte Menschen sich sozial isoliert fühlen.
Auch Altersdiskriminierung kann eine Rolle spielen. Zwar gibt es heute vielfältigere Altersbilder als noch vor hundert Jahren. Negative, defizitorientierte Altersvorstellungen sind aber weiterhin in Umlauf. Gerade wenn gesundheitliche, leistungsbezogene, praktische Einschränkungen im Alter anwachsen, verstärkt sich bei vielen Älteren der Eindruck, nur noch nutzlos oder eine Last zu sein. All diese Faktoren können sozialen Rückzug und die Suizid-Neigung älterer Menschen befördern. Daher ist Suizidprävention immer auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Das präsuizidale Syndrom
Der rumänisch-österreichische Suizidforscher, Individualpsychologe, Psychiater und Neurologe Erwin Ringel (1921-1994) prägte als erster den Begriff „präsuizidales Syndrom“, das von drei wesentlichen Symptomen bestimmt wird:
- Einengung, Aggressionsumkehr (Aggressionen wenden sich gegen die eigene Person)
- Das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu stecken, in der sich Lebensbedingungen und soziale Umstände so zugespitzt haben, dass keine Handlungsfreiheit mehr existiert und kein Ausweg mehr gefunden werden kann. Deshalb ist es als Pflegekraft wichtig, dem Patienten oder Bewohner möglichst viel subjektiven Gestaltungsraum offen zu halten oder dann aufzuschließen, wenn eine unerwartete Krankheit (zum Beispiel Apoplex) den Kohärenzsinn (Sinnhaftigkeit, Handhabbarkeit und Verstehbarkeit des Erlebten) schwer erschüttert hat.
- Suizidfantasien, die sich zunehmend aufdrängen. Bestimmende Lebensereignisse wie ein früherer sexueller Missbrauch, eine psychische Erkrankungen - wie schwere Depressionen, Psychosen oder Suchtmittelmissbrauch - können imperative Suizidgedanken hervorrufen. Sie dürfen also nicht unbehandelt bleiben. Auch eine Reihe Medikamente steht im Verdacht, unerwünschte imperative Suizidgedanken auszulösen oder zu verstärken wie die Pharmazeutische Zeitung in ihren Ausgabe vom 10. Januar 2017 und vom 22. April 2013 berichtet. Wenn ältere (oder auch jüngere) Menschen Suizidgedanken äußern, ist es also immer sinnvoll, ihre Medikation unter die Lupe zu nehmen.
Vorsicht bei diesen Veränderungen
- Suizidale ältere Menschen können mit sprachlichen Äußerungen auffallen, mit denen sie deutlich machen, dass sie so, unter den gegebenen Bedingungen, nicht mehr weiterleben können oder wollen. „Das ist doch kein Leben mehr“ oder „da bin ich lieber tot“ können auf konkrete Suizidgedanken hinweisen.
- Auch Gesten, wie zum Beispiel ein angedeuteter Kehlkopfschnitt, wurden wenige Tage vor einer Selbsttötung schon beobachtet. „Derartige Äußerungen sollten unbedingt beachtet und aufgegriffen werden, da sie den älteren Menschen ernst sind, selbst wenn vielleicht nur ein kleiner Teil davon tatsächlich in eine Suizidhandlung mündet und der Suizid vollzogen wird“, so Sperling.
- Abschließende Handlungen zum Beispiel, wie das unerwartete Verschenken von Wertsachen, das plötzliche Verfassen eines Testaments oder das Horten von Medikamenten, sollten unbedingt ernst genommen werden.
- Wenn ein älterer Mensch nach längerer Ambivalenz zwischen Lebens- und Todeswunsch plötzlich ruhig und ausgeglichen wirkt, mit Gesprächen aber nicht mehr zu erreichen ist, kann ein geplanter Suizid unmittelbar vor der Ausführung stehen.
Warum Suizid-Neigung bei älteren Menschen oft übersehen wird
Ältere Menschen sind häufiger dem bereits gelebten Leben zugewandt. Aus der Vergangenheit schöpfen sie Lebenserfahrungen, Erkenntnisse und Lebensweisheiten, um auch mit aktuellen Herausforderungen umzugehen. Dennoch finden es manche schwierig, offen in die Zukunft zu blicken: Weil sie abhängiger von anderen Menschen werden, vielleicht auch, weil sie es verpasst haben, spirituelle, kreative und geistige Ressourcen zur Bewältigung des Älterwerdens zu entwickeln. Wenn sich ihre zukunftsorientierten Äußerungen und Handlungen mehr mit dem Lebensende befassen, fällt es Außenstehenden oft schwer, abschließende Handlungen mit suizidaler Absicht zu erkennen. Außerdem: Scheint ein Leben objektiv als beschwerlich und von Schmerzen geprägt zu sein, werden Hinweise, wie lieber tot sein zu wollen, eher auch mal lapidar als Übertreibung abgetan.
Die größten Fehler im Umgang mit Suizid-Gefährdeten
Es sollten unbedingt Äußerungen, Gesten und Handlungen vermieden werden, die bei einem lebensmüden Menschen den Eindruck verstärken, nicht wirklich verstanden zu werden oder dem anderen eigentlich gleichgültig zu sein. Dazu gehören Reaktionen, die
- vorwurfsvoll sind, wie zum Beispiel „Wie kannst du aber auch so etwas sagen!“
- abwiegeln, verharmlosen, beschönigen oder vermeiden, wie zum Beispiel ein formelhaftes „ist doch halb so schlimm“, „das wird schon wieder“, „wollen wir mal nicht gleich so schwarz sehen“, „Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist“, oder auch „schauen Sie mal, wie schön draußen die Blumen blühen“.
- mit gut gemeinten Ratschlägen verbunden sind, wie „versuchen Sie es doch mal mit der Yogagruppe oder der Tanzgruppe 60plus, da kommen Sie auf andere Gedanken“.
- eine Suizidabsicht noch bestärken, wie die Frage: „Wollen Sie mich erpressen?“
- „das Problem“ rein pragmatisch angehen: etwa den Griff am Fenster abschrauben und das Zimmer verlassen.
- die Wahrnehmung der suizidalen Person herunterspielen, zum Beispiel „das sehen Sie falsch“, „da haben Sie aber etwas verdreht“
Die wichtigsten Tipps für den Umgang mit Suizid-Gefährdeten
Hilfreicher ist es, echte Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu schenken, zu- und hinzuhören, indem man immer wieder das Gespräch sucht, Gespräche anbietet und nachfragt. Erst in einer solchen vertrauensvollen Atmosphäre wird es dem Gegenüber möglich, eigentliche Beweggründe zu artikulieren und im Dialog vielleicht neue Perspektiven zu entwickeln. Auch wenn der eine oder andere Mensch schwerer zugänglich ist, vielleicht verbittert und „borstig“ ist, bleibt es wichtig, den Kontakt möglichst aufrecht zu erhalten und den Zugang zu suchen.
Wenn alle diese Versuche nichts ändern, heißt es, weitere Hilfe zu organisieren. Ganz wichtig: Die Wahrnehmung des suizidalen Patienten, Bewohners oder Klienten uneingeschränkt akzeptieren und ernst nehmen!
Unterstützung gibt es bei Psychologischen Beratungsstellen, etwa der Caritas, der Diakonie oder dem Roten Kreuz, Seelsorgern in Kliniken oder auch Telefonseelsorgern etwa unter den Nummern 0800-1110111 oder 0800-1110222.
Trotz alledem gelinge es nicht immer, einen Suizid zu verhindern, so der Gerontologe Sperling. Wenn man aber alles für diesen Menschen getan hat, sei man womöglich besser vor Selbstvorwürfen geschützt.
Wenn der Suizid trotzdem passiert: So unterstützen Sie Hinterbliebene
„Das bisherige emotionale und soziale Gefüge kann durch einen Suizid im nahen und unmittelbaren Umfeld aus allen Fugen geraten; die Beziehung zu sich selbst und zu anderen kann schwer erschüttert werden und auch noch bis ins hohe Alter ein seelisches Trauma auslösen“, so Sperling. Nach neueren Schätzungen werden im Rahmen eines einzigen Suizids zwischen 10 und 28 andere Personen unmittelbar mitbetroffen. Die Hinterbliebenen eines Menschen, der einen Suizid vollzogen hat, quälen sehr häufig Schuld- und Verlassenheitsgefühle. Stigmatisierungen durch andere Menschen können den Zustand noch verschlimmern. Es besteht manchmal sogar die Gefahr, dass die Trauernden selbst suizidal werden. Es kann daher hilfreich sein, Angehörige auf Unterstützung hinzuweisen. So gibt es zum Beispiel seit 1995 den Selbsthilfeverein „Angehörige um Suizid“ AGUS e. V., der deutschlandweit Trauernde nach Suizid eines Angehörigen begleitet.
Weitere Informationen
Publikationen aus dem Nationalen Suizidpräventionsprogramm zum Thema Suizidprävention finden Sie unter www.suizidpraevention.de/materialien/publikationen.html.
Adressen für Hilfsangebote gibt es außerdem auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention DGS. Für junge Menschen kann die Mailberatung von [U25] Deutschland eine Anlaufstelle sein.
Autorin: Melanie M. Klimmer