Über den Tellerrand zu schauen, ist selten verkehrt. Michael Ewers hat im Auftrag der Stiftung Münch nach Großbritannien, Schweden, Kanada und in die Niederlande geschaut und die Situation der Pflege dort analysiert. Überall stieß der Direktor des Instituts für Gesundheits- und Pflegewissenschaften der Berliner Charité auf die gleichen Probleme bei der Suche nach Fachkräften und bei der Sicherung der pflegerischen Versorgung. Einige Lösungsansätze allerdings, die Ewers und sein Team fanden, unterscheiden sich von der deutschen Strategie deutlich.
Vor allem wenn es darum geht, die Attraktivität der Pflege als zukunftsfähigen Gesundheitsberuf zu erhöhen, sind die anderen Länder weitaus innovativer. Das zeigt die
Studie „Pflege in anderen Ländern – vom Ausland lernen?“, welche die Stiftung Münch jetzt vorgestellt hat. Demnach wird anderswo nicht nur mehr in die hochschulische Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen investiert. Auch die Selbstorganisation und Selbstverwaltung der Pflege werden gestärkt – und vor allem tragen die Pflegenden dort größere Verantwortung bei der Versorgung der Patienten und übernehmen eigenverantwortlich mehr Aufgaben.
Pflegekräfte noch immer verlängerter Arm des Arztes
Genau das eröffne Pflegekräften interessante Möglichkeiten, sich zu entwickeln, ist Ewers überzeugt. In Deutschland dagegen werde meist am Prinzip der ärztlichen Delegation festgehalten, und die Pflegenden seien als verlängerter Arm des Arztes und auf dessen Anweisung tätig. Um die Pflege zu stärken, „muss der Verantwortungs- und Handlungsspielraum deutlich erweitert werden“, betont Ewers.
100 Prozent Akademisierung in Schweden und England
Dafür fordert er gleichzeitig mehr akademisch ausgebildete Pflegekräfte. In Deutschland hätten nur ein bis zwei Prozent der Absolventen eines Jahrgangs ein Studium der Pflege abgeschlossen. In den untersuchten Ländern dagegen liege dieser Anteil zwischen rund 45 Prozent (Niederlande) und 100 Prozent in Schweden und Großbritannien, so Ewers: „Grundsätzlich schätzen wir Bildung in Deutschland sehr hoch, für die Pflege aber gilt das nicht.“ International sei ein Hochschulstudium auf Bachelorebene oft die Voraussetzung, um als Pflegefachperson zugelassen zu werden.
Mehr Qualifikationsmix im Ausland
Hochschulisch qualifizierte Pflegefachpersonen seien im Ausland auch gefragt, um die zunehmend eingesetzten Assistenten und Helfer anzuleiten und zu beaufsichtigen. Diese übernehmen vielfach einfache pflegerische Aufgaben, die in Deutschland oft noch Pflegefachpersonen leisten müssen. Zudem sei es im Rahmen eines Masterstudiums möglich, sich auf bestimmte Patientengruppen, Krankheitsbilder oder Funktionen zu spezialisieren. „Die Absolventen können anschließend anspruchsvolle Aufgaben übernehmen“, betont Ewers, „darunter auch solche, die vormals Ärzten zugeschrieben wurden.“ So entstehe für jedes Aufgabengebiet ein spezieller Qualifikationsmix.
Hochschulen mit überalterten Lehrplänen
Der „dringende Handlungsbedarf, um in der Zukunft anzukommen“ werde bislang allerdings weder von der Politik noch von den Hochschulen erkannt. Während sich die Berufsbilder verändern, werde an alten Lehrplänen festgehalten, als ob sich nichts getan hätte. „Da treffen Absolventen auf einen Arbeitsmarkt, der ihnen völlig fremd ist“, bestätigt Stephan Holzinger, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Münch und gleichzeitig Chef der Rhön Klinikum AG: „Uns droht eine verlorene Generation von Absolventen.“
Michael Ewers ist in den untersuchten Ländern außerdem aufgefallen, dass die Pflegenden dort aktiv an der Entwicklung von Lösungen beteiligt sind. „Die Politik hat professionellen Interessensvertretungen das Recht und die Pflicht übertragen, mitzubestimmen“, erklärt Ewers. Diese Kompetenz müsse der Pflege auch in Deutschland zugesprochen werden. Die Organisation über Pflegekammern sei dabei „hochgradig attraktiv“.
Werden deutsche Pflegekräfte bald Zimmer reinigen?
Der Blick über die Landesgrenzen bestätige eindrucksvoll, wie wichtig es sei, Pflegenden hochwertigere Aufgaben zu übertragen, bilanzierte Stephan Holzinger. Das sei der entscheidende Punkt, den Beruf attraktiver zu machen. Dass sich daraus auch mehr Verantwortung ergebe, sei vielen in der Pflegebranche allerdings noch nicht hinreichend klar. Auch die Politik verhalte sich widersprüchlich: „Sie will einerseits die Pflege aufwerten, setzt mit neuen Regulierungen wie der Herauslösung der Pflege aus dem DRG-Vergütungssystem aber den wirtschaftlichen Anreiz, dass Pflegefachkräfte demnächst wieder zur Essensausgabe und zur Zimmerreinigung mit eingesetzt werden.“
Michael Ewers fordert Masterplan Pflege
Bislang beschreite Deutschland in der Pflege noch immer Sonderwege, kritisierte Michael Ewers: „Damit steht es in Europa zunehmend isoliert da.“ Einmal mehr forderte er deshalb einen Masterplan Pflege, „der deutlich über das hinausgeht, was in der Konzertierten Aktion Pflege bisher festgelegt ist“.
Die Stiftung Münch hat Eugen Münch ins Leben gerufen, der Gründer des börsennotierten Klinikkonzerns Rhön-Klinikum.
Die Studie ist beim medhochzwei-Verlag erschienen.
Autor: Jens Kohrs