pflegen-online.de: Herr Schlürmann, Sie beraten seit 20 Jahren ambulante Pflegedienste und auch Pflegeheime. Was ist Ihr Eindruck: Ist der Fachkräftemangel dramatischer geworden?
Birger Schlürmann: Viele können keine neuen Kunden mehr aufnehmen, manche Pflegedienste müssen sich sogar verkleinern, weil Touren nicht mehr besetzt werden können. Die Pflegedienstleitungen brennen aus, weil sie nur noch mit Dienstabdeckungen beschäftigt sind – in der ambulanten wie in der stationären Pflege.
Sind nicht aber die ambulanten Pflegedienstleitungen noch im Vorteil: Schließlich sind die Schichten recht familienfreundlich.
Vor 20 oder 30 Jahren war das vielleicht noch der Fall. Aber inzwischen sind die Lebenssituationen der Pflegekräfte sehr unterschiedlich. Wegen der oftmals geteilten Dienste finden manche Pflegekräfte die ambulante Pflege unattraktiv, anderen hingegen passt gerade das sehr gut, weil sie in der Zeit zwischen den Diensten ihre Kinder zu Hause versorgen können und später der Mann übernehmen kann.
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Unter Blaumachern leiden auch die Kollegen: Sie werden aus dem Frei gerufen, meistens ohne wirklich spürbare Kompensation oder Gratifikation.
Aber klaffen die Vorlieben tatsächlich so auseinander? Spätdienst bis halb zehn oder halb elf abends dürfte doch den wenigsten gefallen – der Abend ist in der Regel gelaufen, wer trifft sich danach noch mit Freunden?
Das stimmt natürlich. Aber auch hier finden sich immer wieder Ausnahmen und ungewöhnliche Dienstkonstellationen. Ich habe einen Altenpfleger erlebt, der nur Spätdienst machte, Das kam den Kolleginnen sehr entgegen, sie akzeptierten dafür auch, dass er wirklich keinen einzigen Frühdienst übernahm und jeweils drei Monate im Jahr unbezahlten Urlaub nahm.
Es gibt inzwischen auch nicht wenige Pflegekräfte, die gern Zwölf-Stunden-Schichten arbeiten – in Intensivpflegediensten ist das gar nicht mehr so ungewöhnlich. Gerade für Mitarbeiter ohne Kinder kann das sehr attraktiv sein, eine Woche jeden Tag zwölf Stunden zu arbeiten und dann eine ganze Woche frei zu haben.
Aber die unterschiedlichen Dienstvorlieben der Mitarbeiter sind meistens nicht das Problem. Schlimm ist, dass Pflegedienstleitungen mit Mitarbeitern kämpfen, die genau wissen, wie rar sie sind, und die die Führungskräfte permanent erpressen. Wir sind auf dem besten Wege, unsere fähigen Pflegedienstleitungen völlig kaputt zu machen. Schon heute ist der Mangel an guten Pflegedienstleitungen noch schlimmer als der Pflegekräftemangel.
[Wie Pflegedienstleitungen sich am besten gegen den Druck von Trägern, Mitarbeitern und Angehörigen wappnen können, beschreibt Birger Schlürmann anhand vieler Beispiele in seinem neuen Buch Was die PDL wirklich braucht: Neue Lösungen für richtig gute Arbeitsbedingungen]
Sie sprechen ein heikles Thema an: Mitarbeiter, die Krankheit simulieren. Kommt das wirklich so häufig vor?
Bei meinen Beratungen höre ich immer häufiger davon. Je schlimmer der Personalmangel, desto schlimmer wird es. Nach meinem Eindruck gibt es inzwischen mehr Blaumacher denn je. Die Anreize sind ja hoch: volle sechs Wochen Lohnfortzahlung, im Notfall weicher Fall ins sozial Netz. Das ist übrigens auch ein Grund, weshalb die Krankheitsquoten steigen.
Immer mehr verfestigt sich beispielsweise der Trend, eine Stelle anzutreten mit dem Hinweis, bereits drei Wochen Urlaub gebucht zu haben. Der Arbeitgeber sagt meistens zähneknirschend zu. Der neue Mitarbeiter arbeitet dann eine Woche, simuliert drei Wochen Urlaub und reicht danach den Gelben Schein ein. Es gibt aber auch Mitarbeiter, die sich grundsätzlich immer ums Wochenende oder ihre freien Tage herum krank melden.
Wie können Pflegedienstleitungen gegen Blaumacher vorgehen?
Ich rate in solchen Fällen dazu, den Blaumacher in jedem Falle dem Medizinischer Dienst zuführen und außerdem nach jeder Krankheitsphase – auch bei einem Tag – ein strukturiertes Rückkehrer-Gespräch zu führen. Ändert er sein Verhalten nicht, sollte ihm konsequent gekündigt werden.
Das ist übrigens nicht so schwer umzusetzen: Ich mache bei ihm regelmäßig eine Pflegevisite, weise ihn auf Fehler in der Pflege oder Dokumentation hin und fordere ihn auf, diese abzustellen. Da ergeben sich dann immer Anlässe für eine Abmahnung: Zum einen ist die Dokumentation grottenschlecht – zum Beispiel der Pflegeprozess nicht abgebildet, pflegerische Risiken nicht nachvollziehbar gesteuert, Lücken in Leistungsnachweisen, fehlende Indikationsformulare und so weiter und so fort.
Wenn gar nichts hilft: Kündigen! Das ist gar nicht so schwer umzusetzen.
Zum anderen ist auch die geleistete Pflege oft fehlerhaft bis gefährlich. Nach zwei bis drei Wochen wird nachvisitiert und wenn sich dieselben Fehler wieder ergeben, dann kommt die Kündigung. Schließlich erbringt der Mitarbeiter nachweislich nicht oder nur ungenügend seine arbeitsvertraglich geschuldete Leistung.
Darüber hinaus würde ich in jedem Fall die Anbieter in meinem lokalen Umfeld vor diesen Leuten warnen. Das alles klingt hart. Aber man darf nicht vergessen: Unter Blaumachern leiden auch die Kollegen: Sie werden aus dem Frei gerufen, meistens ohne wirklich spürbare Kompensation oder Gratifikation. Oft müssen sie sogar unbezahlte Überstunden machen. Das ist doch kein Zustand: 2019 gab es in der Altenpflege fast sechs Millionen unbezahlte Überstunden - zum Teil eben auch wegen der Blaumacher.
Zu allem Überfluss können die Kollegen wegen der Personalknappheit, die aus dem Blaumachen resultiert, ihre eigenen Ansprüche an die Pflege nicht mehr erfüllen.
Stellen die ambulanten Dienste und Pflegeheime die Pflegekräfte vielleicht auch zu schnell ein? Schauen sie vielleicht nicht genau genug hin?
Das stimmt, aber sie machen es aus purer Verzweiflung. Zurzeit wird in der Altenpflege jeder eingestellt, der zwei Beine und ein Examen hat. Wenn ich den Trägern Personalauswahlverfahren vorschlage, werde ich ausgelacht. Zu Recht heißt es dann: Ich habe keine Leute, ich muss nehmen wen ich kriege.
Aber deshalb Leute einzustellen, die ohnehin kaum arbeiten und nur Geld kosten, kann doch nicht die Lösung sein. Sind solche Kandidaten denn nicht schon in der Bewerbungsphase zu erkennen?
Da gibt es sicherlich Tricks. Als ich selbst noch als Leitungskraft arbeitete, gab es immer mal wieder Bewerber, die mir sagten, sie seien auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, so dass es mit den Frühschichten hin und wieder ein Problem werden könnte. Da habe ich mir einen fiesen Trick einfallen lassen und sie gebeten, eine Probeschicht zu arbeiten. Ich bat sie, an einem Sonntag zum Frühdienst zu kommen. Und siehe da: Sie kamen nicht.
Ist nicht das Hospitieren ohnehin eine gute Idee? In manchen Krankenhäusern ist das schon gang und gäbe.
Klar, während einer Probeschicht zeigt sich schon Einiges, und wenn man die Bewerber für die Schicht bezahlt, sollte es auch kein Problem sein. Das ist eine Investition, die sich sicherlich lohnt.
Es ist aber auch schon im Bewerbungsgespräch möglich, durch einige unkonventionelle Fragen die Pflegekräfte besser kennenzulernen. Ich finde in dem Zusammenhang Pest-oder-Cholera-Fragen gut geeignet. Eine Frage, die ich mal gestellt habe, lautet: Ihr Lieblingskollege braucht dringend am Sonntag frei wegen einer Familienfeier, Sie haben aber schon fünf Wochenenden am Stück gearbeitet – wie gehen Sie mit der Situation um? Da merkt man dann schnell, was das für Typen sind. Können sie abwägen? Argumentieren? Sind sie authentisch? Oder geht es ihnen nur darum, einen guten Eindruck zu vermitteln und ja nicht anzuecken.
Gibt es eigentlich noch ambulante Dienste oder Pflegheime, die auf Stellenausschreibungen richtig viele Bewerbungen erhalten?
Bisher waren sicherlich Träger mit guten Gehältern oft im Vorteil – wie beispielsweise die Caritas. Aber das dürfte sich bald ändern: Durch die neue gesetzliche Regelung, nach der alle Altenpflege-Träger in Anlehnung an einen Tarif zahlen müssen, könnten sich die Gehälter schnell angleichen.
Die besten Chancen haben heute diejenigen, die mit guten Arbeitsbedingungen punkten können. Aber den Status eines guten Arbeitgebers muss man sich auf dem freien Markt hart erarbeiten. Das geht nur mit Konstanz in der Führung. Wenn dort wirklich jemand mit Weitblick, vernünftigem Menschenbild, geradem Kurs schon lange im Amt ist, dann haben die Einrichtungen nach meiner Beobachtung fast nie Probleme, genügend Bewerber zu bekommen.
Interview: Kirsten Gaede
Über Birger Schlürmann
Der examinierte Altenpfleger blickt auf fast 30 Jahre Erfahrung in der ambulanten und stationären Pflege zurück. Seit 20 Jahren ist er beratend tätig – unterbrochen von einem Ausflug in das operative Geschäft. Seit zehn Jahren ist er außerdem Chefredakteur beim Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG und betreut dort die Wirtschaftsseiten „Rechtssicher in der Pflege“ Beim Schlütersche Verlag sind von ihm die Bücher „Wachstumsmarkt Ambulante Pflege“ (2015), „Personalgewinnung für die ambulante Pflege“ (2018) und „Was die PDL wirklich braucht“ (2021) erschienen.