Frage 1: Wer darf, soll oder muss aus welchem Grund eine Überlastungsanzeige erstatten?
Judith Barth: Grundsätzlich können das alle Pflegekräfte machen, die sich überlastet fühlen. Aber auch Vorgesetzte, also Stationsleitungen, Wohnbereichsleitungen oder Pflegedienstleitungen können eine Überlastungsanzeige erstatten, wenn sie meinen, dass sie ihre Dienste mit den zur Verfügung stehenden Mitarbeitern nicht vernünftig organisieren können.
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Frage 2: Auf welchem Weg soll man die Überlastungsanzeige übersenden?
Judith Barth: Man sollte die Überlastungsanzeige unbedingt schriftlich erstatten. E-Mails bereiten mir allerdings Bauchschmerzen. Denn der Empfänger könnte leicht so tun, als hätte er die Mail nicht erhalten. Deshalb rate ich immer dazu, die Überlastungsanzeige persönlich abzugeben – auch wenn dieser Moment unangenehm ist.
Am besten ist es, zwei ausgedruckte Exemplare mitzubringen, eins vom Vorgesetzten unterschreiben zu lassen und wieder mitzunehmen. Wenn man diesen Vorgang mit ein paar freundlichen, konstruktiven Worten begleitet, lässt sich die Konfrontation, die Verschärfung des Konflikts, ein wenig abfedern. Alternativ kann man die Überlastungsanzeige auch per Einwurfeinschreiben versenden.
Frage 3: Was sollte in der Überlastungsanzeige drin stehen?
Judith Barth: Dies sind die entscheidenden Punkte:
- Ort und Datum
- der Name des Mitarbeiters
- die Station, der Arbeitsbereich
- eine genaue Beschreibung, worin die Überlastung besteht (Beispiel: seit vier Wochen arbeiten alle Pflegekräfte der Station mehr als 60 Stunden / Woche)
- Pausen und Ruhezeiten werden nicht eingehalten, es sind Überstunden angefallen, deshalb sind alle Pflegekräfte völlig übermüdet
- anschließend die Folgen für die Mitarbeiter und für die zu Pflegenden nennen
- darstellen, dass man sein Möglichstes getan hat, um den Personalmangel auszugleichen (als Führungskraft)
- schließlich die Aufforderung an den Arbeitgeber, für Abhilfe zu sorgen.
Die Haftung für Pflegefehler, die aus einer Überlastung heraus geschehen, liegt beim Arbeitgeber. Die Überlastungsanzeige signalisiert somit dem Arbeitgeber, dass er jetzt handeln muss.
Frage 4: Welche formellen oder inhaltlichen Fehler sind bei der Überlastungsanzeige unbedingt zu vermeiden?
Judith Barth: Der gravierendste Fehler wäre, sich mündlich auszukotzen statt den Fall schriftlich in sachlicher Weise darzustellen.
Inhaltlich wäre es fahrlässig, den Text vor der Abgabe nicht von einer unbefangenen, unbeteiligten Person gegenlesen zu lassen. Denn der Text muss sachlich bleiben und darf nicht ins Emotionale abgleiten. Eine gefühlsgeladene Schimpfkanonade animiert den Arbeitgeber nicht zum Handeln. Sie macht ihn entweder wütend oder gleichgültig, ist also nicht zielführend.
Frage 5: Wer darf wen verklagen, wenn wegen einer Überlastung aus Personalmangel Patienten oder Bewohner einer Pflegeeinrichtung zu Schaden kommen?
Judith Barth: Klar ist: Auch wenn eine Pflegekraft überlastet ist, darf sie dennoch keine pflegerischen Fehler machen. Wenn sie allerdings vorher per Überlastungsanzeige darauf hingewiesen hat, dass die Gefahr von Pflegefehlern wegen der Überlastungssituation besteht, dann ist in erster Linie der Arbeitgeber haftbar. Die Überlastungsanzeige dient somit der Haftungs-Freistellung für die betroffene Pflegekraft.
Beispiel: 150 Bewohner oder Patienten auf vier Stockwerken und eine einzige Nachtwache. Wenn jetzt fünf Patienten gleichzeitig klingeln und sich die Pflegekraft nun um den ersten Patienten kümmert, dann ist der zweite Patient eventuell schon aus dem Bett gefallen und hat sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Hier liegt der Fehler eindeutig in einer mangelhaften Planung der Dienste durch den Arbeitgeber, ist also ein Organisationsfehler.
Frage 6: Muss die eigentliche Pflegekraft damit rechnen, dass sie für einen Pflegefehler aus Überlastung haftbar gemacht werden kann?
Judith Barth: Angehörige können theoretisch versuchen, auch die Pflegekraft zu verklagen. Sie verklagen meistens jedoch die Vorgesetzten oder die Betreiber der Pflegeeinrichtung oder des Krankenhauses, da sie wissen, dass sie hier Schadenersatzansprüche leichter durchsetzen können als bei der einfachen Pflegekraft. Zumal der Einrichtungsträger für solche Fälle eine Betriebshaftpflichtversicherung hat.
Frage 7: Was raten Sie Pflegekräften, die nach einer Überlastungsanzeige vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt werden?
Judith Barth: Zunächst rate ich, es sich sehr genau zu überlegen, ob man wirklich eine Überlastungsanzeige abgeben will, ob man vorher wirklich alle Gesprächsmöglichkeiten ausgeschöpft hat. Wenn man die Überlastungsanzeige inflationär einsetzt, zerstört man das Arbeitsklima und das gegenseitige Vertrauen. Die Gefahr, dass der Arbeitgeber sich mit Druckmaßnahmen rächt, ist gegeben. Mein Rat an Pflegekräfte lautet: Suchen Sie sich einen neuen Job, wenn der Arbeitgeber Druck ausübt! Denn Sie werden ohne Probleme eine neue Stelle finden. Und da das auch die Arbeitgeber wissen, werden sie ihre Racheaktionen vermutlich schnell wieder einstellen, wenn Sie eine Kündigung ankündigen.
Lesen Sie über den Fall einer Krankenschwester am Asklepios Fachklinikum, dem ehemaligen Landeskrankenhaus Göttingen, die abgemahnt wurde, nachdem sie eine Überlastungsanzeige gestellt hatte: Abmahnen nach Überlastungsanzeige? Gut, dass der Richter Nein sagt!
Frage 8: Sollten sich Pflegekräfte, die unter Überlastung leiden, direkt an die Öffentlichkeit wenden – also etwa an die lokale Tageszeitung?
Judith Barth: Ich rate dringend davon ab. Man sollte die internen Möglichkeiten nutzen, bevor man an die Öffentlichkeit geht und damit dem Arbeitgeber letztlich nachhaltig schadet.
Frage 9: Sollte man die Heimaufsicht informieren?
Judith Barth: Ja, das ist durchaus eine Option – allerdings in der Regel erst dann, wenn der Arbeitgeber nach einer Überlastungsanzeige, die man erstattet hat, weiterhin nichts unternimmt, um den Überlastungen entgegenzuwirken, oder wenn gravierende Missstände herrschen, wie etwa Ausübung von Gewalt gegenüber Pflegekunden. In einigen Bundesländern gibt es auch Pflegekammern, an die man sich als Pflegekraft in solchen Fällen wenden kann.
Frage 10: Dürfen Arbeitgeber ohne weiteres Überstunden anordnen, Dienste verschieben oder einen bereits genehmigten Urlaub zurückziehen, wenn es zu einem Personalmangel im Haus kommt?
Judith Barth: Ja, im Rahmen des Zumutbaren, der Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes und im Rahmen der Regelungen im Arbeitsvertrag dürfen Arbeitgeber Überstunden anordnen. Es ist dem Arbeitgeber ebenfalls erlaubt, Dienste zu verschieben oder zu verlängern, wenn ein kurzfristiger Personalmangel vorliegt. Dann muss die Pflegekraft eben zwei Stunden länger bleiben. Für Eltern mit kleinen Kindern kann das schwierig werden, weil zum Beispiel ein Kind von der Kita abgeholt werden muss. Theoretisch könnte der Arbeitgeber sogar einen genehmigten Urlaub zurückziehen. Dies sollte jedoch die absolute Ausnahme bleiben. Hier ist es sinnvoller, im Gespräch mit den Mitarbeitern zu klären, ob nicht jemand freiwillig bereit ist, seinen Urlaub zu verschieben – und sich dann eventuell mit zwei Zusatzurlaubstagen zu bedanken. Denn wenn die Pflegekraft schon einen Urlaub gebucht hat, muss der Arbeitgeber die vollen Storno-Kosten übernehmen.
Über Judith Barth
Die Spezialgebiete der Rechtsanwältin aus Unkel (bei Bonn) sind Pflegerecht, Kita-Recht, Arbeitsrecht und Vereinsrecht. Im Bereich der Pflege berät sie ambulante Pflegedienste, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Judith Barth gibt ihr Fachwissen auch in Seminaren, Vorträgen, Vorlesungen und Inhouse-Schulungen weiter.
Autor: Michael Handwerk