Der Expertenstandard zur „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz” von 2019 ist für Monika Hammerla Claassen mehr als eine gute Grundlage für ein qualitätsvolles Miteinander zwischen Pflegekräften und Menschen mit Demenz: „Er kann und muss helfen, die unglückliche Situation, in der sich viele Menschen mit Demenz befinden, zu ändern”, sagt die Coburger Fachpflegekraft für Gerontopsychiatrie und Geriatrische Rehabilitation, die auch Vorstandsmitglied der Deutschen Expertengruppe für Demenzbetreuung (DED) ist.
Mitarbeitern den Expertenstandard nicht einfach vorsetzen!
Das Problem: Der Standard in seiner Reinform bleibt sehr theoretisch, bietet wenig praxisnahe Anstöße, wenig Griffiges. „Der Expertenstandard hat einen hohen Abstraktionsgehalt”, bestätigt Hammerla. Und warnt: „Einfach vorgesetzt wird deshalb Widerstand entstehen.” Heimleitungen und Führungskräfte in Einrichtungen sollten ihn ihren Beschäftigten daher „begreifbar” machen. Das sei ein Prozess in mehreren Schritten, wie die Demenzexpertin in ihrem Buch „Qualitätsmerkmal Beziehung” (Schlütersche, 2021) erläutert. Pflegen-online hat für Sie einige Informationen und Tipps für die Beziehungsarbeit herausgesucht:
1. Tipp: Vergessen Sie, dass Sie Pflegekraft sind …
…zumindest für einen Moment. Lassen Sie beiseite, dass Sie eine Funktion innehaben, eine Profession ausüben, „auf Arbeit sind”. Einmal aus der funktionalen Rolle heraustreten — das helfe dabei, sich auf die Bewohner einzustellen, eine „person-zentrierte Haltung”, einzunehmen, wie Hammerla es nennt. Ein Ansatz übrigens, der auch für Pflegekräfte selbst von Vorteil sei: „Viele Pflege- und Betreuungsmitarbeiter haben sich bereits auf diesen Weg gemacht und erleben täglich, wie entspannt ihre Arbeit dadurch geworden ist.”
2. Tipp: Den Menschen mit Demenz als einzigartig wahrnehmen
Person-zentrierte Haltung — was bedeutet das? „Sie nehmen dann eine person-zentrierte Haltung ein, wenn Sie den Menschen mit Demenz – trotz aller Defizite – als Person sehen und wahrnehmen”, erklärt Hammerla. Das heißt also: ihm Respekt entgegenbringen, seine Einzigartigkeit akzeptieren — und diese auch würdigen. „So fördern Sie die Aufrechterhaltung seiner Persönlichkeit.”
3. Sich bewusst sein, dass sich das Wohlbefinden verbessern kann
Der Ansatz ist nicht neu, sondern stammt von dem Psychologen Tom Kitwood. Hammerla zitiert den Briten oft, auch deshalb, weil sein Ansatz ein „zutiefst menschlicher” sei: „Er verweigerte sich dem herkömmlichen Paradigma, dass eine Demenz eine organisch bedingte psychische Erkrankung sei, die zum Stoppen gebracht werden müsse”. Seine Überzeugung stattdessen: Auch ein von Demenz betroffenes Gehirn sei fähig, ständig und strukturell zu adaptieren — die Neuroplastizität des Organs macht’s möglich. Und: Es seien die Pflege- und Betreuungskräfte, die das Wohlbefinden der Menschen mit Demenz fördern könnten — wenn sie die Beziehung zu ihnen entsprechend gestalten. Doch wie geht man es an?
4. Tipp: Zunächst erst einmal: Kennen Sie sich selbst!
Ein Tipp, der nur auf den ersten Blick überraschend klingt. Denn: „Jede Pflege- und Betreuungskraft bringt ihr eigenes Lebenskonzept mit in den Arbeitsalltag”, so Hammerla. Und dieses Konzept, also die eigenen Erfahrungen und der eigene Blick aufs Leben, präge auch die Beziehungsarbeit mit den Bewohnern. Pflegekräfte sollten sich deshalb, noch bevor sie mit der Beziehungsarbeit beginnen, ihrer eigenen Lage bewusst werden, Selbstliebe entwickeln, Selbstfürsorge betreiben. Hammerla empfiehlt: „Kennen Sie Ihre eigenen Bedürfnisse! Wer sich nur aufopfert, verliert seine Lebenskraft. Es hilft, wenn Sie Ihre Bedürfnisse äußern und sich auch Hilfe holen.”
5. Tipp: Eine Ich-und-Du-Beziehung aufbauen
Statt einer „Ich-Es-Beziehung”, die zweckgerichtet und oft auch manipulativ sei, sollte eine Pflegekraft schließlich eine Ich-Du-Beziehung zu einer dementen Person aufbauen. Diese zeichne sich laut Hammerla durch Offenheit, Präsenz und Da-Sein aus; im Vordergrund stehe die Begegnung. „Erst wer einen Pflegebedürftigen als Person wirklich ernst nimmt, sieht ihn auch als Du an.”
6. Tipp: Sieben Wege führen zum Menschen mit Demenz …
… auch das ein Konzept von Tom Kitwood. Dazu gehöre es unter anderem, biografische Daten einzuholen, was gerade in der Frühdemenz auch noch recht gut gelingen kann, sich Geschichten der Kindheit oder Jugend erzählen zu lassen und den Menschen mit Demenz in alltäglichen Situationen zu beobachten und zu erleben. „Beobachten Sie das Verhalten gut, die meisten Verhaltensweisen und Handlungen lassen sich interpretieren”, so Hammerla. Weitere Zugangswege führen etwa über die Kreativität und Fantasie, so lassen sich Rollenspiele gut nutzen, um sich in die Lage der Menschen mit Demenz hineinzuversetzen.
7. Tipp: Das verletzt die Würde! — No-Gos im Umgang mit Demenz
„Na, haben wir schön Heia gemacht?” — ein Satz, der in Heimen öfter fallen dürfte. Hammerla warnt: Mit solchen Bemerkungen würden Bewohner infantilisiert, klein gemacht und in ihrer Würde verletzt. Genauso schädigend für eine gute Ich-Du-Beziehung sind zum Beispiel:
- Einschüchterungen („Ich sage das dem Doktor”)
- Anklagen („Sie sollen doch Ordnung halten!”)
- Verbannungen („Sie gehören nicht in diese Gruppe, gehen Sie raus”)
- Ignorieren
- Herabwürdigungen
- den Menschen mit Demenz zu Handlungen zwingen
8. Tipp: Activity, baby!
Menschen mit Demenz verbringen ihr Leben oft in einer Wartehaltung. Warten aufs Waschen, Warten aufs Essen, Warten auf Besuch. Dabei brauchen sie gerade Impulse von außen, um „vergnügt aktiv” zu werden, wie Hammerla es ausdrückt. Zu den zwölf Aktivitäten, die sie vollständig in ihrem Buch ausführt, zählen zum Beispiel sensorische Reize, gemeinsames Spiele oder Entspannen. Und sie rät auch zu kleinen Gesten: So könne bereits ein freundliches Zuprosten, etwa beim Mittagessen, einen aktivierenden Effekt haben.
9. Tipp: Ein Tal der Tränen? Da müssen Sie als Leitung durch!
Der Demenz-Expertenstandard sei „eine der größten Revolutionen in der Geschichte der Pflege”, heißt es in Hammerlas Buch. Er erfordere ein „komplettes Umdenken in Haltung und im Handeln”. Gerade die Führungskräfte seien hier gefordert. Hammerla zitiert einen langjährigen Heimleiter, der die Veränderungen als Verlustgefühl beschreibt: Vertrautes werde für Leitungskräfte fremd, Arbeitsablauf und Gewohnheiten passten nicht mehr zu den neuen Aufgaben, auch die Fehlerquote steige. „Man erlebt das Tal der Tränen”, so seine Erfahrung. Es dauere eine gewisse Zeit, bis der Erfolg der Veränderung sichtbar werde. „Diese Phase durchzustehen, erfordert Kraft und Selbstdisziplin.” Also: Bleiben Sie dran!
10. Tipp: Vergessen Sie die Angehörigen nicht
Angehörige gehören eingebunden in die Beziehungsarbeit. Bedenken Sie: Sie wollen oder können die Lage ihrer Verwandten oft nicht wahrhaben, fühlen sich hilflos, verstehen vor allem abrupt verändertes Verhalten nicht. Sorgen Sie also für Aufklärung, bitten Sie die Menschen in ihr Büro, erklären Sie in Ruhe, vielleicht bei einem Kaffee, die Situation. Ebenso wichtig: gleich einen erneuten Gesprächstermin vereinbaren. Denn, so Hammerla: „Es dauert erfahrungsgemäß sehr lange, bis Angehörige diese Veränderungen der Krankheit annehmen können. Zur Prozessbewältigung sollten daher alle drei bis vier Monate regelmäßige Gespräche stattfinden.”
11. Tipp: Den Expertenstandard mit genauen Plan einführen
Der Expertenstandard Demenz implementiert sich nicht mal eben so oder gar „einfach nach Gefühl”. Es braucht einen Umsetzungsplan, ein systematisches Vorgehen, etwa nach einem Konzept, welches die Hochschule Osnabrück zusammen mit dem Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) ausgearbeitet hat (und welches in Hammerlas Buch genauer beschrieben wird): Demnach verläuft der Prozess in vier Phasen: Fortbildung, Konkretisierung, Einführung und Audit. Planen Sie auf alle Fälle ausreichend Zeit ein: Gut sechs bis zwölf Monate dauert es, bis der Standard in einer Einrichtung zum: Standard wird.
12. Tipp: Auf Augenhöhe mit dem MDK
Der Demenz-Expertenstandard ist nicht zuletzt Grundlage vieler Qualitätsprüfungen. Auch für ein Agieren mit dem MD (früher MDK) auf Augenhöhe gibt Hammerlas Buch deshalb einige Anregungen. So sollten Pflegekräfte etwa Verlaufsbeobachtungen der Menschen mit Demenz in die Dokumentation aufnehmen. Stimmung und Affekt, Beziehung und Interaktion, Betätigung und Eingebunden-Sein sind etwa Kriterien, die festgehalten werden können. „Im Idealfall zeigt der Mensch mit Demenz ja Anzeichen für den Erhalt und die Förderung des Gefühls, dass er gehört, verstanden und angenommen wird.” Und damit schließlich auch: dass sie wirkt — die wertvolle, respektvolle, zugewandte Beziehungsarbeit.
Autorin: Romy König
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