Individuell pflegen, Rücksicht nehmen auf die Eigenheiten eines Bewohners – wenn die Voraussetzungen stimmen, ist das auch im Heimalltag möglich. Wie es geht, zeigen die Einrichtungen der Mönchengladbacher Sozial-Holding und das Trierer Mutter-Rosa-Altenzentrum.
1. Die Basis: detaillierte Anamnese vor der Aufnahme
Für eine Betreuung, die sich an den Gewohnheiten des Bewohners orientieren kann, ist zunächst eine qualifizierte Aufnahme notwendig. Damit Wunsch und Wirklichkeit im Alltag nicht auseinanderklaffen, braucht es eine ausführliche Anamnese – ein möglichst umfassendes Bild des Lebens, wie es daheim gestaltet wurde. „Grundlage ist immer die Biografie des Menschen“, sagt Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozial-Holding der Stadt Mönchengladbach. „Nur so können wir im Vorfeld erfassen, wie weit unsere Angebote tatsächlich mit dem übereinstimmen, was der Einzelne selbst möchte.“ Für die sieben Heime der Sozial-Holding führen vier, zum Case Manager weitergebildete Pflegefachkräfte eine digitalisierte, zentrale Aufnahme durch. In den Gesprächen sollen nicht nur detaillierte Informationen zu Gesundheitszustand, Mobilität, Umfeld etc. gewonnen, sondern auch Vorlieben, Abneigungen, Leidenschaften erkannt werden.
Wo Individualität zählt, sind Bewohner ruhiger und zufriedener
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Die Zeit, die in eine gründliche Aufnahme investiert wird, zahlt sich in der Regel aus. Wenn Gewohnheiten im Heimalltag berücksichtigt werden, steigt die Zufriedenheit der Bewohner, sie sind umgänglicher, die Stimmung im Haus ist harmonischer. „Zufriedenheit schafft Erleichterung“, sagt Wallrafen. „Und das gilt auch für Menschen mit Demenz. Fühlen sie sich wohl und geborgen, haben wir eine ruhigere Atmosphäre.“
2. Makramee für jeden? Nicht allen dasselbe anbieten!
„Was ist das existenzielle Bedürfnis eines Menschen? Das müssen wir klären“, sagt Wallrafen. „Wir können doch zum Beispiel den Flugzeugingenieur, der noch völlig orientiert ist, nicht kurzerhand zum Makramee verbannen. Oder einen Menschen, der sein Leben lang eher verschlossen und zurückhaltend war, nun täglich zu Gruppenaktivitäten drängen, die ihm völlig fernliegen. Oder am Ende noch einem muslimischen Bewohner Schweinefleisch vorsetzen. Es gibt Dinge, die dürfen einfach nicht sein.“
Es sei entscheidend, sowohl die No-Gos als auch die persönlichen Interessen eindeutig zu identifizieren. „Alles, was wir erfahren, können wir nutzen“, so Wallrafen. „Umgekehrt gehört zum Ernst-nehmen der Bedürfnisse aber auch, ehrlich zu benennen, was unter Umständen nicht geht.“
3. Bewohner nicht erziehen
Alkohol (in Maßen) und Rauchen (auf dem Zimmer) sind in den sieben Heimen der Sozial-Holding erlaubt; auch sein Haustier kann der Bewohner auf Wunsch mitbringen. Meist handele es sich aber um große Aquarien, seltener um die eigene Katze oder den eigenen Hund, so Wallrafen. Begeistert seien die Bewohner umso mehr von den Hunden und Ponys, die aus therapeutischen Gründen in den Einrichtungen regelmäßig eingesetzt werden.
4. Sexualität und Intimsphäre respektieren
Privatheit bleibt im Heim letztlich zwar auf das eigene Zimmer beschränkt. Dass Bewohner dort auch ihre Sexualität ausleben, sollte indes als selbstverständliches Grundbedürfnis akzeptiert werden, betonte Birgit Hansen, PDL und Heimleiterin des Mutter-Rosa-Altenzentrums in Trier, im Magazin der Pflegekammer Rheinland-Pfalz deutlich. „Es gibt Bewohner, die sich schwer verletzt haben, weil sie Zahnbürsten, Lockenwickler und Katheterschläuche zur Selbstbefriedigung benutzten. Um das zu vermeiden, versuchen wir, ihren Bedürfnissen Raum zu geben. Wenn Mitarbeiter Verhaltensweisen mit Verletzungspotenzial bemerken, informieren sie mich. Wir besprechen das, beziehen die Angehörigen ein und beraten, empfehlen zum Beispiel geeignete Hilfsmittel wie Vibratoren oder eine künstliche Vagina. Wir schauen individuell nach Lösungen.“
[Hier geht’s zum ausführlichen Interview mit Birgit Hansen zum Thema Sexualität und Selbstbefriedigung]
5. Bitte kein Essen aus der Konserve!
Ein Thema beeinflusst die Zufriedenheit der betagten Menschen im täglichen Miteinander in besonderem Maße: das Essen. Bis zu Beginn der Corona-Pandemie fuhren die Köche der Sozial-Holding jede zweite Woche zu den einzelnen Heimen, um in den verschiedenen Wohnbereichen gemeinsam mit den Bewohnern zu essen – und sich ihr ungefiltertes Feedback abzuholen. Wie wichtig gutes Essen fürs Wohlbefinden der Bewohner ist, hat auch die Aktion „Verborgene Wünsche“ ans Licht gebracht: Zahlreiche Bewohner gaben an, liebend gern wieder einmal ein frisches Ei auf den Teller zu bekommen – eines, das nicht aus Angst vor Salmonellen zu Zement gekocht sein sollte.
Schluss mit Salmonellen-Angst und 10-Minuten-Eiern
Mithilfe eines entsprechenden Geräts, in dem die Eier nun vor der Weiterverarbeitung beschwadet und in dem etwaige Keime abgetötet werden, lässt sich dieser Wunsch inzwischen erfüllen. „Seitdem ist auch mehr Ruhe im Frühstücksraum“, sagt Wallrafen. „Denn wer spontan noch ein Ei bestellt, wartet geduldig die paar Minuten, bis es aus der Küche kommt.“
Passierte Kost auf Sterne-Niveau
Darüber hinaus setzt Wallrafen auf Qualität genauso bei spezieller, medizinisch indizierter Ernährung. „Es gibt bei uns 28 Menschen, die nur passierte Kost zu sich nehmen können. Und auch dieses Essen kann man heute quasi auf Sterneniveau herstellen. Es wird püriert, in Förmchen gebracht und sieht am Ende auf dem Teller aus wie das Originalprodukt. Das Gleiche gilt, wenn bei Schluckbeschwerden die Flüssigkeit angedickt werden muss – wichtig ist in jedem Fall, dass die Nahrung hochwertig und ästhetisch bleibt.“
Autorin: lin