Die 50-Prozent-Quote gilt bundesweit für alle vollstationären Pflegeeinrichtungen, die einen Versorgungsvertrag nach Sozialgesetzbuch XI erfüllen. Die Frage, die gerade wieder die Gemüter erhitzt, ist: Was ist eine „Fachkraft“? In einem Großteil der Heimpersonalverordnungen der 16 einzelnen deutschen Länder, die das Bundesgesetz für die Praxis ausgestalten, wurde dieser Anspruch bisher etwa so formuliert wie in Bayern: Dort wird nur der als Pflegefachkraft anerkannt, wer eine dreijährige Pflegeausbildung beziehungsweise ein Pflegestudium absolviert hat.
Pflegekammer Niedersachsen kritisiert Landesverordnung
Niedersachsen könnte nun zu den ersten Bundesländern gehören, die sich von dieser Fachkraftquote leise verabschieden. Die dortige Pflegekammer, bundesweit die dritte existierende und zugleich die größte, wirft der Landesregierung in Hannover vor, die 50-Prozent-Quote „durch die Hintertür aufzuweichen“ und „kopflos zu verringern“. Die Kritik der Kammer richtet sich gegen die Anfang des Jahres in Kraft getretene Landesverordnung.
Sozialarbeiter und Physiotherapeuten ersetzen Pflegefachkräfte
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In dieser Landesverordung wird die Fachkraftquote an sich nicht infrage gestellt – aber im Ländervergleich sichtlich lockerer definiert. So sieht die neue Verordnung vor, dass beispielsweise Berufsbilder wie Sozialarbeiter oder Physiotherapeuten auf die Fachkraftquote angerechnet werden können. Und dass zwei Pflegeassistenten, die von Heimen als Mitarbeiter beschäftigt oder neu eingestellt werden, rechnerisch als eine Fachkraft verbucht werden dürfen.
(Die „Verordnung über personelle Anforderungen für unterstützende Einrichtungen nach dem Niedersächsischen Gesetz über unterstützende Wohnformen (NuWGPersVO) vom 25. Oktober 2018“ kann heruntergeladen werden auf der Seite des Biva Pflegeschutzbundes - Biva steht für: Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebedürtige Menschen)
„Pflegerische Versorgungsqualität in Gefahr“
„Das dritte Jahr fehlt“, sagt Elisabeth Gleiß, Vorsitzende im Ausschuss für pflege- und gesundheitspolitische Angelegenheiten bei der Pflegekammer Niedersachsen. „Dabei ist das dritte Jahr das Ausbildungsjahr, in dem Fachpflege tiefgründig vermittelt wird und die Leute auf eigenständiges Handeln und die Übernahme von Verantwortung vorbereitet werden.“ Deshalb setzte die Neuregelung „die pflegerische Versorgungsqualität aufs Spiel“, kritisiert Tobias Immenroth, bei der Pflegekammer Vorsitzender des Ausschusses für Qualitätsentwicklung und -sicherung.
Wer kümmert sich künftig um alles Medizinnahe?
„Erstklassige Pflege funktioniert aber nur mit einem Mindestmaß an vollständig ausgebildeten Pflegefachpersonen im eigentlichen Sinn“, sagt Elisabeth Gleiß weiter. Die medizinnahen Leistungen seien ohne fundierte Ausbildung nicht seriös zu erbringen. Gleiß sagt zu den konkreten Anforderungen im Alltag – von der Wundversorgung bis hin zu mit besonderer Verantwortung verbundenen organisatorischen Tätigkeiten: „Das Personal braucht die Fachkompetenz, um pflegerische Diagnosen überhaupt zu erkennen und um handlungspflegerische Tätigkeiten in den Heimen durchzuführen.“
Zu diesen handlungspflegerischen Tätigkeiten zählen:
- Blutdruck messen
- Blutzucker bestimmen
- Insulin-Gabe
- Wundversorgung
- Sauerstoff-Gabe
- PEG-Sondenversorgung
- Dekubitusprophylaxe
- Pneumonieprophylaxe
- Kontrakturprophylaxe, Spitzfußprphylaxe
- Schreiben einer Pflegeplanung
- Überwachung von Patienten/Bewohnern
Wer erkennt künftig Schlaganfall-Warnzeichen?
„Dazu braucht man Pflegefachkräfte“, sagt Gleiß. „Eine Logopädin ist für mich deshalb keine ‚Fachkraft‘“. Und nicht zu vergessen: Es sind examinierte Altenpflegekräfte (Krankenpflegekräfte), die Krankenbeobachtung von der Pieke auf gelernt haben und verlässlich die Warnzeichen eines Schlaganfalls erkennen.
Zurück in die 80er: Heimleiter kann aus Hauswirtschaft kommen
Neben einer „Aufweichung der Fachkraftquote durch die Hintertür“ befürchtet die Pflegekammer mit der Neufassung der Landesverordnung auch einen Qualifikations- und damit Qualitätsverlust bis hinauf in die Führungsetagen von Einrichtungen der stationären Pflege. Der neuen Verordnung zufolge soll es ab sofort möglich sein, dass für die Besetzung von Positionen in der Heimleitung eine dreijährige Berufsausbildung im Bereich Gesundheit oder Sozialwesen mit Hochschulstudium nicht mehr zwingende Voraussetzung sind. Die Qualifikation als „Staatlich geprüfter hauswirtschaftlicher Betriebsleiter“ oder der Meister-Titel im Fach Hauswirtschaft soll den fachlichen Berufsprofilen gleichgestellt werden.
Baden-Württemberg geht noch weiter als Niedersachsen
Als eines der ersten Bundesländer hatte sich Baden-Württemberg bereits vom 50-Prozent-Standard bei der Fachkraftmindestquote offiziell verabschiedet. Das nach dem Land benannte „Baden-Württembergische Modell“ sieht vor, dass die Quote sogar um 10 auf 40 Prozent abgesenkt werden darf, wenn dies im Gegenzug durch die doppelte Zahl an anderweitig qualifizierten Fachkräften oder Pflegekräften mit zweijähriger Ausbildung kompensiert wird. Erwin Rüddel, Verfechter des Modells und pflegepolitischer Sprecher der CDU/CSU im Bundestag, lobt diese Regelung, weil sie „mehr Fachlichkeit bei mehr Flexibilität bedeutet“. Ähnlich sieht dies auch der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa).
Verdi: Mehr Stress für Pflegefachkräfte
Mitarbeiter von Pflegeberufen im Südwesten erleben das Modell indes anders. Miriam Fischer, Altenpflegerin aus Backnang bei Stuttgart, sieht darin „ein Einfallstor zur dauerhaften und flächendeckenden Absenkung des Qualifikationsniveaus“. Fischer schreibt dazu in einem Positionspapier für die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di: „Studien belegen: Werden Pflegefachkräfte durch fachfremde Beschäftigte oder Hilfskräfte ersetzt, leidet die Qualität. Die Arbeitsbelastung der verbliebenen Pflegefachkräfte verschärft sich weiter. Noch mehr Kolleginnen und Kollegen werden aus dem Beruf vergrault. Der Fachkräftemangel ist daher kein Argument für die Absenkung der Fachkraftquote – im Gegenteil.“ Der stetig steigende Bedarf an Fachkräften könne allein durch gute Arbeitsbedingungen und eine angemessene Bezahlung gesichert werden, die Pflegeberufe attraktiver machten. Miriam Fischer: „Es müssen mehr, nicht weniger Pflegefachkräfte ans Bett.“
Autor: Adalbert Zehnder