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Niedersachsen

Reimann und die Pflegekammer - 6 Mal bittere Kritik

Stimmen aus der Pflegebranche zur Entscheidung der Sozialministerin Carola Reimann (SPD), die Pflegekammer Niedersachsen aufzulösen

„Ein vordringliches Ziel der Landesregierung ist es, das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Anerkennung des pflegerischen Berufsstandes positiv zu verändern. Die Pflegekammer nimmt hierbei ergänzend zu Gewerkschaften und Berufsverbänden eine wichtige Funktion wahr.“ Dieser Text findet sich noch immer auf der Website des niedersächsichen Sozialministeriums. Doch jetzt ist er Geschichte. Die Pflegekammer Niedersachsen - gegründet im August 2017 - wird aufgelöst. Dies hat Sozialministerin Carola Reimann (SPD) am 7. September 2020 angekündigt. Die dafür nötigen Gesetzesänderungen würden rasch in die Wege geleitet.

Das Aus hat die Pflegekammer unvorbereitet, aber nicht völlig überraschend getroffen. Seit bald zwei Jahren hagelt es Proteste und Demonstrationen wegen der Pflichtmitgliedschaft und der Pflichtbeiträge. Das Sozialministerium beschloss einzuspringen und die Mitglieder von den Beitragszahlungen zu befreien. Und: Es kündigte eine Mitgliederbefragung an, die entscheidend für den Fortbestand der Kammer sein sollte.

Weniger als 20 Prozent haben sich an Umfrage beteiligt

Die Ergebnisse der Online-Mitgliederbefragung waren dann auch für Sozialministerin Dr. Carola Reimann der Anlass, die Auflösung der Kammer anzukündigen. Insgesamt 15.100 von rund 78.000 befragten Mitgliedern der Pflegekammer Niedersachsen haben an der Abstimmung über die Zukunft der Kammer teilgenommen. Von ihnen stimmten 70,6 Prozent gegen den Fortbestand der Kammer, 22,6 Prozent dafür, 6,8 Prozent enthielten sich. Der Befragungszeitraum erstreckte sich vom 29. Juli bis zum 6. September 2020.

„Dieses Ergebnis ist eindeutig“, so Sozialministerin Dr. Carola Reimann. „Die Pflegekammer ist damit ganz offensichtlich nicht die Form von Vertretung, die sich die Pflegekräfte in Niedersachsen wünschen.“ Die bereits gezahlten Beiträge werden zurückerstattet. Man hätte die Kammer von Anfang an mit Mitteln ausstatten sollen, sagte die Sozialministerin gegenüber dem NDR. Carola Reimann übernahm das Sozialministerium erst Ende 2017 von Cornelia Rundt (SPD). die das Thema Pflegekammer in Niedersachsen stark vorangetrieben hatte.

Lesen Sie die Kommentare aus der Pflegebranche zur Entscheidung von Carola Reimann:

Andreas Westerfellhaus: Pflege in Niedersachsen wird jetzt stumm gehalten

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, bedauerte in seinem Redebeitrag auf dem Gesundheitskongress des Westens in Köln das Aus für die Pflegekammer in Niedersachsen. Als größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen brauche die Pflege unbedingt eine eigene Interessenvertretung, so der ehemalige Präsident des Deutschen Pflegerats. Die Auflösung der Pflegekammer werde die Pflege in Niedersachsen nunmehr "stumm halten".

Bundespflegekammer: Die meisten Mitglieder haben sich kein Bild gemacht

Zur Bundespflegekammer gehören die Pflegekammern in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen sowie der Deutsche Pflegerat mit seinen 16 Mitgliedsverbänden. Die 2019 gegründete Dachorganisation bezweifelt vor allem die Aussagekraft der Umfrage. Insgesamt hätten sich nicht einmal 13,7 Prozent der Kammermitglieder „für eine Neuregelung ihrer Standesvertretung“ (also eine Abschaffung) ausgesprochen. Dr. Markus Mai, Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz und Sprecher der Bundespflegekammer: „Plebiszitäre Verfahren in Niedersachsen sehen ein Zustimmungsquorum von 25 Prozent vor, um sicherzustellen, dass ein hinreichender Wählerwille zum Ausdruck kommt. Diese Beteiligungsgrenze ist bei weitem nicht erreicht worden.“

Die schwache Beteiligung (knapp 20 Prozent) sei kein Mandat für die Politik, über den Fortbestand der Pflegekammer Niedersachsen zu entscheiden. Sie zeige deutlich, dass sich die überwältigende Mehrheit der Mitglieder der Pflegekammer Niedersachsen überhaupt kein Bild über die Arbeit der Kammer machen könne.

Deutscher Pflegerat: Landesregierung hat Unterstützung verweigert

Auch der Deutsche Pflegerat stellt die Umfrage wegen der schwachen Beteiligung infrage und kritisiert außerdem deren Umsetzung (sie musste unter anderem wegen eines Hackerangriffs wiederholt werden). Franz Wagner, Präsident des Deutschen Pflegerats: „Die Vorgeschichte und sind die Pannen bei der Umsetzung der Befragung sind ein trauriges Beispiel eines Politikversagens ersten Grades. Die aktuelle Landesregierung und insbesondere die niedersächsische Gesundheitsministerin Carola Reimann haben der Pflegekammer von Anfang an eine tatkräftige und vor allem außenwirksame Unterstützung verweigert. Schon beim ersten Problem hat sich die Ministerin von der Kammer distanziert, anstatt diese zu stärken.

Statt die Profession Pflege zu stärken, hat man sie in Niedersachsen seitens der derzeitigen Landesregierung von Beginn an für inkompetent erklärt, sich selbst zu verwalten.

Wer glaubt, mit der Ankündigung der Abschaffung der Pflegekammer Ruhe für den anstehenden Wahlkampf zu erreichen, der wird sich getäuscht sehen.“

DBfK: Sozialministerium hat die Befragung stümperhaft geplant

Mangelndes Interessse an der Pflegekammer wirft der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe dem niedersächsischen Sozialministerium vor: „Dieses Nicht-Ergebnis ist unbestreitbar der ,Verdienst' der politisch Verantwortlichen in Niedersachsen“, so Martin Dichter, Vorsitzender des DBfK Nordwest, in dessen Region auch Niedersachsen fällt. „Dort sitzen die Totengräber des jungen Pflänzchens Pflegekammer. Eine neue Institution, die politisch nicht wirklich gewollt ist und weder finanziell noch ideell klar unterstützt wird, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.“

Dass es nicht gelungen ist, die schweigende Mehrheit zu aktivieren, liege an dem stümperhaften Erstversuch der Befragung mit suggestiver Fragestellung und dem Abbruch des Zweitversuchs. Diejenigen Pflegenden, die sich differenziert damit auseinander gesetzt haben, hätten in der jetzt tatsächlich zu Ende gebrachten Befragung keinen Sinn mehr gesehen. Außerdem hätte Sozialministerin Reimann das Ergebnis schon vorweg genommen.

Hinzu komme der völlig verfrühte Zeitpunkt. „Wie sollen Pflegende die Wirkung ihrer Berufsvertretung beurteilen, wenn diese noch gar keine Chance hatte, sie zu entfalten?“ fragt Martin Dichter. „Auch die Tatsache, dass diese Befragung nicht von einer wirkungsvollen Öffentlichkeitskampagne begleitet wurde, spricht Bände. Dieses Defizit konnten Aufrufe zur Beteiligung an der Abstimmung, unter anderem auch der von Seiten des DBfK, nicht kompensieren.“

Bundesverband Pflegemanagement: Niedrige Umfrage-Beteilgung ist Ausdruck von Frustration

Dem Bundesverband Pflegemanagement gehören Führungskräfte aus Kranken-,Alten und Kinderkrankenpflege an (von Pflegedirektorinnen bis zu Wohn- und Stationsleitungen). Für den Verband drückt sich in der niedrigen Umfragebeteiligung der Ärger über den pflegefeindlichen Kurs der Gesundheitspolitik aus.

Pflegekräfte sähen sich seit Jahrzehnten als Spielball der Wirtschaftlichkeit und des Finanzierungssystems in der Gesundheitsversorgung. Politisch und wirtschaftlich Verantwortliche hätten die Pflegekräfte abgewertet, weil nur noch marktwirtschaftliche Aspekte zählten. Pflegekräfte würden als Kostenfaktoren und weniger als Kapital eines Unternehmens betrachtet. Weiter heißt es in dem Statement: „Verantwortliche aus der Gesundheitswirtschaft haben sich in Kongressen hervorgetan und ihrer Karriere Vorschub geleistet mit wie wenig Personal man wirtschaftlich über die Runden käme. Jetzt haben wir das Dilemma. Runtergewirtschaftet und abgebaut sitzen beruflich Pflegende inmitten der demographischen Entwicklung und sollen an die Politik glauben und an das, was ihnen jetzt versprochen wird.“

Der Bundesverband stößt sich auch an der Aussage der SPD-Fraktionsvorsitzenden Johanne Modder, der nun die Rolle der Gewerkschaften betont. „Die Frage sei an dieser Stelle erlaubt: Warum sollen die Gewerkschaften ausgerechnet jetzt die Karre aus dem Dreck holen? Die Gelegenheit dazu hätten sie ja schon in den vergangenen Jahren gehabt.“

Pflegegewerkschaft Bochumer Bund: Pflegekräfte, raus aus der Lethargie!

Während die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Pflegekammern vor Ort (vor allem in Kliniken) und in öffentlichen Statements infrage stellt, spricht sich die neue Pflegegewerkscheft Bochumer Bund entschieden für Pflegekammern aus.

Die Umfrage, so heißt es in der Pressemitteilung des Bochumer Bundes, habe vor allem dazu gedient, die unabhängige Selbstverwaltung der Pflegefachpersonen in Niedersachsen zu zerstören. „Wird die Kammer tatsächlich abgeschafft, wirft das die Pflege in Niedersachsen um Jahrzehnte zurück“, warnt Lukas Böckenholt, BB-Vorstandsmitglied und Mitglied im Errichtungsausschuss der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen. Ohne Kammer würde ein wichtiger Interessenvertreter der Pflege wegbrechen, die Pflege wäre nicht mehr in diversen wichtigen politischen Gremien vertreten.

Der Bochumer Bund bedauert, dass viele Pflegekräfte nicht bereit seien, sich zu organisieren und dafür auch Mitgliedsbeiträge zu leisten. „Solange unter Pflegekräften die Mitgliedschaft in Berufsverbänden und Gewerkschaften wie den BochumerBund eine absolute Ausnahme darstellt, bleibt unser Berufsstand Spielball berufsfremder Interessen“, Böckenholt. „Damit aber werden für viele Pflegekräfte beispielsweise Tarifverträge oder von Pflegekammern – also von uns Pflegenden – erarbeitete und in Kraft gesetzte Berufs- oder Weiterbildungsordnungen Illusionen bleiben.“

Die Gewerkschaft Bochumer Bund übt scharfe Kritik an fast allen im niedersächsischen Landtag vertretenen Parteien: Mit Ausnahme der Grünen hätten alle Fehler und Versäumnisse der Politik auf die Kammer abgewälzt – immer flankiert von Verdi. Besonders die niedersächsische CDU habe der Pflegekammer nie eine Chance gegeben und immer auf ihre Abschaffung hingewirkt.

Autorin: kig/Pressemitteilungen Bochumer Bund, DBfK, Bundespflegekammer, Bundespflegekammer, Deutscher Pflegerat

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