Wie machen die vielen anderen Menschen meiner Babyboomer-Generation das eigentlich? Sie arbeiten, reisen, gärtnern, chatten, machen Karriere – und wer kümmert sich um ihre alten Eltern, wo und wann tun sie es? Oder sprechen sie nur nicht darüber? Gibt es ein größeres Tabu in unserer Gesellschaft als das Alter, und zwar nicht das sanfte, in dem man noch über die Arbeitsfähigkeit bis 67 Jahren diskutieren darf, sondern das harte Leben der Hochbetagten und ihrer Angehörigen?
Sicher, in jeder Zeitung gibt es große Anzeigensonderveröffentlichungen zu komfortablem altersgerechtem Wohnen, Zuschüssen für die Badsanierung, es gibt Berichte mit schönen Bildern zu Kreuz- und Kaffeefahrten und es gibt all das, was rüstige Rentner sonst noch so alles brauchen und (an)schaffen. Zu verdienen gibt es schließlich genug an ihnen, eine ganze Industrie labt sich an ihrer Unterhaltung und Betreuung.
Selbst ambulante Pflegedienste und Heime werben noch mit farbenfrohen Bildern, auf denen die noch halbwegs rüstigen, durchaus attraktiven und dauerfröhlichen Alten zu bestaunen sind. Ist das die Realität, oder gaukelt man sie uns nur als solche vor? Sind alle Alten so fit und unternehmenslustig wie die 92-Jährige, die ich regelmäßig beim Frühschwimmen treffe? So gut erhalten und pflegeleicht? Die jüngeren Alten vielleicht schon, aber die hochbetagten in der Regel nicht. Und zunehmend kommen sie erst dann ins Heim, wenn sie extrem siech sind. Dabei wäre ein gutes Heim für viele Senioren die bessere Alternative.
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Selbst seriöse Blätter differenzieren nicht mehr
Aber die Heime genießen bei vielen Menschen ein grottenschlechtes Image. Einzelne Horrorgeschichten von drangsalierten und vernachlässigten Heimbewohnern, die durch die Medien zogen, samt manch fragwürdiger Statistik haben sich in den Köpfen derart festgestanzt, dass die Vorstellung für viele eben keine mehr ist: die pflegebedürftigen Eltern ins Heim zu bringen. Selbst seriöse Blätter verzichten inzwischen auf angemessene Differenzierung. So widmete die Autorin der Zeit-Beilage „Christ & Welt“ in einem Bericht über polnische „Pflegesklavinnen“ in deutschen Mittelstandshaushalten der Alternative Pflegeheim gerade mal zwei Sätze: „Viele sträuben sich auch, den Angehörigen in ein Altenheim zu geben. Die Sorge ist zu groß, dass der geliebte Mensch dort vernachlässigt wird, dass er geistig und körperlich schnell abbaut.“ Hier (zuhause) der geliebte Angehörige, dort das hässliche Heim: Als ob Liebe und Zuneigung der Angehörigen an der Heimpforte abzugeben seien.
Einsam in den eigenen vier Wänden
Solche Sätze verfestigen das Vorurteil gegenüber der stationären Pflege nur weiter. Das Loblied auf die „eigenen vier Wänden“ scheint alternativlos. Wer aber genauer hinschaut, was oft gar nicht erwünscht ist, wird aber in vielen Fällen zugeben müssen: So rosig wie bejubelt ist die Lage in den eigenen vier eigenen Wänden nun auch wieder nicht. Das Haus ist meist stark renovierungsbedürftig, Kochen und Wäsche werden vernachlässigt, das Geschirr und vieles anderes sehr schmutzig, gelüftet wird nicht oft, für Unterhaltung sorgt einzig der Fernseher, viele alte Ehepaare giften sich nur noch an, Stürze und sonstige Unglücke werden gegenüber den eigenen Kindern gern so lange vertuscht, bis es nicht mehr anders geht. Wie viele Hochbetagte vegetieren da eigentlich in großer Einsamkeit vor sich hin? Ihre Kinder – falls vorhanden – wohnen meist weit entfernt und sind beruflich wie familiär stark eingebunden. Wissen sie wirklich, wie es um die alten Eltern bestellt ist? Können sie es wissen?
Betreuungsgeld – bei Alten ok?
Natürlich ist ein Heim nicht billig. Zur Wahrheit gehört aber auch: Viele Kinder verzichten nur ungern auf die Pflegegelder, die ihnen bei der Versorgung ihrer alten Eltern daheim zustehen. Wenn diese dann ins Heim kommen, sind die Alten meist schon sehr „schwere Fälle“ geworden. Von einer gesunden Mischung in den Heimen, denen ein paar mehr fitte Alte sicher gut täten, kann also keine Rede sein. Die neue Pflegereform wird diesen Trend verstärken: denn wer die ambulante Pflege stärkt, schwächt automatisch die Heime. Letztere werden auch nach Ansicht von Fachleuten damit wirklich zur tristen Endstation mutieren, in denen Heimbeiräte nicht mehr mit Bewohnern zu besetzen sind.
Merkwürdigerweise hat man sich in den letzten Jahren stets über das Betreuungsgeld lustig gemacht und es als „Herdprämie“ beschimpft, die Eltern kleiner Kinder beziehen konnten, die ihre Kinder daheim versorgen wollten statt sie in die Kita zu schicken. Dabei gibt es für die Pflege von Alten ein Betreuungsgeld ja schon längst und es wird sogar weiter ausgebaut: Bei Pflegegrad 3 oder 4 gibt es immerhin 545 beziehungsweise 728 Euro im Monat. Die Familien können frei entscheiden, wie sie das Geld einsetzen.
Aufleben im Heim
Bei jungen Familien wird stets argumentiert, beiden Eltern solle die Berufstätigkeit ermöglicht werden. Warum sticht diese Begründung bei der Altenpflege nicht mehr? Wer bleibt jetzt zuhause und pflegt Oma oder/und Opa? Oder nimmt man schon stillschweigend in Kauf, dass die alten Menschen tagsüber mutterseelenallein vorm Fernseher in ihren Wohnungen sitzen und auf die Rückkehr ihrer berufstätigen Kinder am Abend oder Wochenende hoffen? Dazu zweimal am Tag für rund zehn Minuten vom ambulanten Pflegedienst versorgt und von Essen auf Rädern gesättigt werden, den Notrufknopf in Reichweite? Oder kalkuliert man die polnische „Pflegesklavin“ gar politisch gleich mit ein, wie der Bericht der Zeit-Autorin nahelegt?
Es riecht manchmal zwar nach einer Mischung aus Kaffee und Urin im Heim. Die meisten alten Menschen mögen es warm und scheuen das Lüften, so mein Eindruck, wenn ich meinen 95-jährigen Vater dort besuche. Seit dem Tod meiner Mutter vor einem halben Jahr lebt er nun dort – und, jawohl, er lebt dort auf! Natürlich wehrte auch er sich zunächst gegen den Gedanken, in ein Heim zu ziehen. Aber vaterseelenallein 200 Kilometer entfernt von der einzigen Tochter zu wohnen als fast Hundertjähriger war auch keine Alternative, das sah er dann doch ein. Also gaben wir uns alle einen Ruck und starteten das Abenteuer Heim – das nur fünf Minuten von unserem Wohnhaus in Norddeutschland entfernt ist. Eine wunderbare Zeit begann, und zwar für alle Beteiligten!
Vater spielt jetzt wieder Klavier
Täglich Besuch von Tochter und Enkeln – wann gab es das jemals für ihn? Ein schönes helles Zimmer mit Parkettboden und wunderbarem Blick ins Grüne. Das Personal so freundlich und hilfsbereit. Das Essen, naja, es schmeckt ihm nicht immer. Aber es gibt zwei Klaviere, eins im Speisesaal unten und eins auf seinem Flur. Eine Bewohnerin hat es dorthin mitgebracht. Seit zehn Jahren hatte mein Vater nicht mehr auf dem Klavier in den eigenen vier Kellerwänden gespielt, weil er die Treppe nicht mehr dort runter kam. Überglücklich spielt er nun jeden Tag, zur Freude von Bewohnern und Personal. Er ist glücklich, wenn sie sein auswendiges Spiel – Volks- und Kirchenlieder aus dem Kopf ohne Noten - bewundern.
Das Heim kann also durchaus Perspektivenöffner und Sinnstifter und damit eine wertvolle Alternative für „die eigenen vier Wände“ sein. Davon ist aber leider selten oder nie die Rede. Das Vorurteil von der geistigen Verkümmerung, es hält sich halt zu hartnäckig.
Die Menschen sind hier auch nicht allein. Mein Vater war als Lehrer ein geselliger Typ. In seiner alten Wohngegend waren aber alle Bekannten und Freunde weggestorben. Hier im Heim sind immer Menschen da, die vorbeikommen und grüßen, es gibt – für die, die es noch wahrnehmen können – immer etwas zu gucken. Häufig, das erlebe ich fast jeden Tag, gibt es auch etwas zu lachen. Friseur, Arzt und Fußpflege kommen regelmäßig ins Haus. Es werden Tanzstunden, Spielenachmittage und Gottesdienste angeboten. Demenz – auch das lernt man hier - kann auch lustig sein.
Ich fühle mich meinem Vater jetzt näher
Mein Vater und ich haben lange Zeit nicht nur räumlich, auch geistig weit voneinander entfernt gelebt. Unser Verhältnis war oft angespannt. Seit er im Heim in meiner Nähe ist, begegnen wir uns täglich und lernen und uns wieder neu kennen, es gibt überraschend schöne, innige und entspannte Momente. Oft genug ist es schwierig, weil er keine rheinische Frohnatur ist wie meine Mutter eine war, sondern die Sturheit des Ostwestfalen in sich trägt. Seine Stimmungen und Bedürfnisse schwanken täglich bis stündlich. Am besten geht es ihm, wenn die Enkel vorbeikommen – die Begegnung mit der Jugend tut allen Alten gut.
Wenn ich nachmittags an seine Zimmertür klopfe, weiß ich nicht, was mich erwartet. Wird er wieder Trübsal blasen oder – ja, auch das kommt vor - alles prima finden? Werde ich ihn zur Spazierfahrt im Rollstuhl überreden können oder möchte er mit mir lieber im Zimmer plaudern? Hat er beim Studium der Todesanzeigen in seiner alten Tageszeitung wieder einen bekannten Namen entdeckt? Hat ihm das Essen geschmeckt oder regt er sich wieder über die „Milben“ in der Salatsoße auf, die er nicht als Kräuter akzeptieren will?
Entspannend: Es muss nichts organisiert werden
Wir wissen beide nicht, was die Zukunft bringt. Ich weiß aber schon jetzt, dass mir mein Vater, sollte es soweit sein, sehr fehlen wird. Das ist für mich überraschend nach all den Jahren der Entfremdung. Im Heim erlebe ich ihn entspannt wie nie zuvor. Er braucht sich um nichts zu kümmern und scheint es zu genießen. Alles, was er vor einem halben Jahr mit ins Heim nehmen wollte, waren neben etwas Wäsche und persönlichen Dingen vor allem zwei kleine Büchlein mit religiösen Texten. Denen und der Tageszeitung widmet er seine Vormittage. Nachmittags nehmen wir uns Zeit für die vielen kleinen Dinge, dieses scheinbar unbedeutende tägliche Miteinander am Lebensende: Es gelingt im Heim einfach entspannter, weil es nichts zu organisieren gibt. Ich empfinde unsere täglichen Begegnungen als großes Geschenk.
Ist das schlechte Image politisch gewollt?
Dem Heim mit seinem freundlichen Personal bin ich sehr dankbar, dass es mir diese Nähe mit dem für mich stets „schwierig“ gewesenen Vater ermöglicht. In den eigenen vier Wänden wäre uns ein solches Wiederfinden nicht so gelungen, in der Distanz des Heimes hingegen schon. Ich bin recht sicher, mein Vater sieht und fühlt es genauso. Auch scheint mir, dass das miserable Image der Pflegeheime politisch ganz willkommen ist: Man redet die Heime schlecht, denn sie sind natürlich verdammt teuer.
Merkwürdigerweise redet man Krippen und Kitas schön, obwohl sie ebenfalls verdammt teuer und obendrein qualitativ oft extrem vernachlässigt sind. Im einen Fall setzt man darauf, dass Angehörige sich um die Pflegebedürftigen kümmern, im andern Fall nicht? Es ist legitim und wünschenswert, dass der Staat auf die Kassenlage schaut. Nur sollte er das dann auch sagen und nicht so tun, als ob die Anreize zur häuslichen Pflege ausschließlich im Sinne der Alten wären. Oft genug sind sie es nicht. Das Loblied auf die eigenen vier Wände am Lebensende bietet häufig nicht die bessere, sondern nur die billigere Variante. Schade.
Autorin: Birgitta vom Lehn
Foto: privat