pflegen-online: Herr Schwarz, Sie sagen, dass immer mehr Auszubildende Angst haben, vor einer Gruppe etwas zu präsentieren, oder dass sie sich mit dem Lernen selbst schwertun. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Klaus Schwarz: Der Druck ist gerade bei jungen Menschen stark gestiegen – sowohl von außen als auch hinsichtlich der Erwartungen, die sie an sich selbst stellen. Viele bringen zudem eine schwierige Schulsozialisation mit, ihnen fehlen die richtigen Lernstrategien oder auch die mentalen Strategien, um mit herausfordernden Situationen wie einer Prüfung gut umgehen zu können. Es ist zwar ganz normal – insbesondere wenn es um eine staatliche Abschlussprüfung wie bei uns in der Pflege geht –, dass in dieser Situation eine Anspannung und Nervosität da ist. Wenn die Angst einen Auszubildenden aber blockiert oder seine Motivation angesichts der Fülle des Lernstoffs so weit nach unten geht, dass er resigniert, wird es schwierig.
Was wäre ein Beispiel für eine mentale Blockade?
Solche Blockaden hängen meist mit einem mangelnden Selbstbewusstsein zusammen. Das heißt, man fühlt sich in vielen Situationen klein, hat vielleicht auch schon das eine oder andere Scheitern erlebt oder kann Erfolge nicht für sich selbst verbuchen. In diesen Fällen geht es darum, die Person aufzubauen. Das können Sie mit dem Coaching eines Sportlers vergleichen, der vor einem großen Wettkampf steht. Wichtig ist dann, deutlich zu machen, was derjenige bereits erreicht hat, ihn zu stärken und ihn mit anderen Dingen zu konfrontieren als jenen, die unmittelbar mit der Ausbildung zu tun haben. Jeder hat ja Bereiche im Leben, in denen er erfolgreich ist oder schon war – Erfolge, die man aber in dem Moment, in dem man von der Prüfungsangst vereinnahmt ist, nicht mehr sehen kann. Darüber hinaus gibt es auch Entwicklungsblockaden. Das bedeutet, letztlich Angst vor dem eigenen Erfolg zu haben, verbunden mit der Frage: Was passiert denn, wenn ich die Prüfung bestehe – was kommt danach, wie verändert sich mein Leben?
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Und was kann beim Lernen falsch laufen?
So vielfältig und anspruchsvoll die Ausbildung zur Pflegefachkraft ist, so wesentlich ist es, kontinuierlich zu lernen. Denn in den Abschlussprüfungen brauche ich das gesamte Wissen, die Examina machen kaum eine thematische Eingrenzung. Das Allermeiste von dem, was ich in drei Jahren gelernt habe, muss ich am Ende also tatsächlich auch parat haben. Und vor allem: Ich muss es begriffen haben. Den Fehler begehen viele – nicht zu schauen, ob sie das Gelernte wirklich verstanden haben. Wer es von früher aus der Schule gewohnt ist, zwei Tage vor einer Klausur ein Thema einfach nur auswendig zu lernen, steht in der Pflegeausbildung irgendwann mit dem Gefühl da: Das ist so viel Stoff, der Berg wird immer größer – das schaffe ich nie.
Wie sieht stattdessen eine gute Lernstrategie aus?
Wir versuchen, schon im Unterricht immer Verknüpfungen herzustellen: Was hat dieses Thema mit einem anderen zu tun, und jenes wiederum mit dem nächsten? Über diese Verknüpfungen, die dann auch im Gehirn stattfinden, entsteht ein höherer Behaltenseffekt. Ein halbes Jahr vor der Prüfung kann man seine Lernstrategie durchaus noch verändern. Ein Tipp wäre, mit Mindmaps zu arbeiten und diese Mindmaps im Gedächtnis zu verankern. Sie helfen etwa, wenn in der Examensklausur ein Fallbeispiel auftaucht: Dann ziehen diese vernetzten Strukturen, die eine Person zu diesem Thema aufgebaut hat, wie ein Film vor ihrem geistigen Auge vorüber.
Viele Auszubildende arbeiten gern auch mit Karteikarten. Um dabei Zusammenhänge herzustellen und ein größeres Verständnis aufzubauen, ist es sinnvoll, die Karten auf einem Tisch oder auf dem Boden auszubreiten und sich auch hier zu fragen: Wo sind die Verbindungen zwischen den Begriffen und Themen, in welchen Kontexten stehen sie?
Wenn wir in diesem Zeitrahmen bleiben: Was wäre im Vorfeld, ungefähr ein halbes Jahr vor der Abschlussprüfung noch wichtig?
Struktur zu schaffen und Etappen festzulegen – das ist der erste wichtige Schritt, wenn es auf die Prüfungen zugeht. Wir sagen unseren Auszubildenden immer: Fangen Sie zu Anfang des dritten Jahrs an, Ihre Unterlagen noch einmal durchzugehen und zu sichten. Schauen Sie, ob alles komplett ist. Vergleichen Sie Ihre Unterlagen mit denen eines Kurskollegen, von dem Sie wissen, dass er alles super strukturiert hat. Bringen Sie spätestens jetzt eine vernünftige Ordnung in Ihre Themen- und Lernbereiche.
Und wie lässt sich die Motivation in den Monaten vor der Prüfung weiter hoch halten?
Im nächsten Schritt geht es darum, Lerneinheiten zu portionieren. Packen Sie Pakete, entscheiden Sie bewusst: Im nächsten Monat beschäftige ich mich intensiv mit Thematik XY. Und nach drei oder vier Wochen visualisieren Sie genauso bewusst, was Sie erreicht haben. Nehmen Sie am besten einen Papierkalender und machen Sie einen dicken roten Haken hinter dem Termin. Sagen Sie sich: So, das habe ich geschafft. Jetzt kann ich das nächste Paket angehen. Knallen Sie auf keinen Fall gleich einen Stapel von 15 Lehrbüchern auf den Tisch; sich den Berg, der vor einem liegt, auf diese Weise vor Augen zu führen, untergräbt schlechthin jede Motivation.
Wenn wir uns gedanklich der Abschlussprüfung weiter nähern: Was wären typische Dos und Don’ts in der Zeit kurz vor dem Examen?
Das ist natürlich auch typabhängig, aber ganz generell kann man sagen: Lernen Sie nicht bis zur letzten Minute. Sondern setzen Sie zwei oder drei Tage vor der Prüfung bewusst einen Cut und tun Sie etwas für sich. Machen Sie sich frei von den Gedanken: Mir fällt nichts mehr ein, ich weiß nichts, ich kann bei der Prüfung gar nichts. Denn diese Gedanken sind durchaus normal. Was man braucht und verinnerlichen sollte, ist das Gefühl: In dem Moment, in dem die Prüfung stattfindet, kann ich das schon alles abrufen.
Wenn ich aber stattdessen bis zur letzten Minute lerne, setze ich mich permanent einem viel zu hohen Druck aus. Dann fällt mir nur ständig noch etwas anderes ein, von dem ich denke: Das weiß ich doch auch noch nicht. Diese Gedankenspirale kann man stoppen, indem man bewusst sagt: Jetzt ist es gut – ich habe nun wirklich genug gelernt. Und indem man sich auch klarmacht: Letztlich habe ich keinen Einfluss darauf, was in der Prüfung gefragt wird – aber ich habe aus meiner Sicht in jedem Fall genug getan, um sie zu bestehen.
Womit setzen sich Prüflinge noch unnötig unter Druck?
Ich sollte auch akzeptieren, dass ich vor der Prüfung vielleicht eine unruhige Nacht verbringe. Da verfällt man ja auch oft in das Gefühl: Warum kann ich denn jetzt nicht schlafen, ich muss doch ausgeruht sein – das erzeugt aber nur wieder Druck. Stattdessen: auch das einfach zulassen. Es ist völlig okay, vor einer wichtigen Prüfung morgens um vier Uhr wach zu sein. Dann sollte man einfach aufstehen und irgendetwas machen – nur eben auch hier nicht in letzter Minute noch lernen.
Wenn es dann so weit ist und die mündliche Abschlussprüfung in wenigen Minuten beginnt: Mit welchen Mitteln lässt sich die Nervosität in diesem Moment in Schach halten?
Ich empfehle immer, nicht zu früh vor einem Prüfungstermin vor Ort zu sein. Denn ansonsten inhaliert man auch noch die ganze Aufregung der anderen. Und wenn ich ohnehin zu diesem Unwohlsein oder der Angst vor Prüfungen neige, beeinflusst mich das umso mehr.
Nach Möglichkeit sollte man sich stattdessen einen ruhigen Raum suchen, sich noch einmal klarmachen, dass man genug gelernt hat, und sich unterstützend durch bewusstes Atmen selbst herunterbringen. Im Netz findet man leicht solche Atemmeditationen; das sind ganz einfache Übungen, die aber sehr gut wirken. Denn in dem Moment, in dem ich mich auf meinen Atem konzentriere, verschwinden alle anderen Gedanken. Die Konzentration auf den Körper führt dazu, dass ich im Hier und Jetzt bleibe und nicht in diese Spirale von Antizipation gerate: Was passiert, wenn ich dieses oder jenes gefragt werde, was ist, wenn …
Sollte aber in der Prüfung doch die größte Befürchtung wahr werden und die Antwort auf eine Frage plötzlich in einem schwarzen Loch verschwinden: Was raten Sie für diesen Fall?
Hier müssen wir unterscheiden: Ein echter Blackout hieße, komplett blockiert zu sein, keinen Plan mehr zu haben von dem, was überhaupt gefragt wurde, und wirklich nichts mehr sagen zu können. Das ist ein absolut seltenes Phänomen; in über 20 Jahren, in denen ich als Lehrer Prüfungen abgenommen habe, sind solche Blackouts weniger als zehn Mal vorgekommen.
Das ist etwas ganz anderes als die Situation, dass einem Prüfling eine Antwort nicht gleich einfällt. In diesem Fall kann er sich einfach einen Moment Zeit nehmen und überlegen – wer gelernt hat und auch mental gut vorbereitet ist, wird auf die richtige Antwort kommen. Das sage ich schon in der Prüfungsvorbereitung immer wieder: Sie können Fragen durchaus umstellen und sich auch trauen zu sagen: Über diese Frage muss ich kurz nachdenken. Man sollte nicht die Erwartung an sich selbst haben, alles heraussprudeln zu müssen.
Gehen wir zum Schluss weiter zur praktischen Prüfung: Wie bewahren Prüflinge auch hier die Ruhe?
Wir stellen bei den praktischen Prüfungen fest, dass die Aufregung sogar oftmals geringer ist als bei den mündlichen Examina. Im Grunde gilt aber auch hier das gerade Gesagte: Vertrauen Sie auf Ihr Wissen, nutzen Sie vorab eine entspannende Atemtechnik. Und denken Sie auch daran: Die Prüfungskommission ist nicht Ihr Feind. In den allermeisten Fällen wünschen sich doch auch die Prüfer, dass die Kandidaten ihr Examen bestehen. Halten Sie sich zudem immer vor Augen: Ich werde nicht als Mensch geprüft – sondern ich stehe hier am Ende von drei Jahren, um zu zeigen, was ich kann und weiß.
Interview: lin
Über Klaus Schwarz
Der Diplom-Pflegepädagoge ist Kursleiter am Agaplesion Bildungszentrum für Pflegeberufe Rhein-Main. Er hat im vergangenen Jahr die zertifizierte Weiterbildung zum Prüfungs- und Auftrittscoach (PAC) absolviert und unterstützt nun Auszubildende, die mit Prüfungsangst, Lernblockaden oder Motivationskrisen zu ihm kommen, durch ein individuelles Coaching. Das Bildungszentrum wird von den Agaplesion Frankfurter Diakonie Kliniken und dem Krankenhaus Sachsenhausen getragen und bietet derzeit unter anderem 175 Plätze für die Ausbildung zur Pflegefachkraft an.