Nach einer ersten Analyse des Ist-Zustands der Pflegedokumentation standen David Bayer (Foto unten, Mitte) und die Pflegeberaterin Renate Hadi 2010 (r.) vor einem Berg gesichteter Dokumentationsmappen von verschiedenen Stationen - und vor der Aufgabe, einheitliche Leitlinien für die Pflegedokumentation zu schaffen im Allgemeines Krankenhaus der Stadt Wien (AKH Wien), einem der größten Krankenhäuser Europas und dem größten Krankenhaus in Wien.
Umfangreich dokumentieren – das war 2010 das Maß aller Dinge
„Damals war es ja fast ketzerisch, an der Volldokumentation zu rütteln. Insofern brauchte unsere Pflegedirektorin schon Mut, um zu sagen: Eigentlich gefällt mir nicht, wie wir das hier machen“, sagt David Bayer, Leiter der Abteilung Pflege- und Betriebsprozesse im AKH Wien. „Wir mussten erst das Management, dann die mittlere Führungsebene für unser Vorhaben gewinnen – Beteiligte, die jahrelang darauf fokussiert waren, dass alles möglichst umfangreich dokumentiert wurde und auch Sanktionen erfolgten, wenn dies nicht geschah.“
Jetzt lautet die Devise: In Leitlinien das Allgemeine zusammenfassen
Heute wird weitgehend mit definierten Leitlinien in einem stationsübergreifend einheitlichen SAP-System dokumentiert. „Wir haben in unseren Leitlinien vieles zusammenfassen können, was ohnehin auf der Hand liegt und für alle Patienten gilt“, so David Bayer. „Deshalb müssen wir nun beispielsweise nicht mehr für jeden Patienten einzeln formulieren: Soll nicht stürzen. Nur wenn tatsächlich pflegerelevante Risiken oder aktuelle Probleme über einen längeren Zeitraum von mehr als 72 Stunden vorliegen, findet eine individualisierte Maßnahmenplanung statt.“
Nur jeder 3. Patient braucht individuelle Pflegeplanung
Jährlich versorgen die rund 1.600 Pflegekräfte auf den Normalstationen des AKH Wien mehr als 120.000 Patienten. Dass die Inhalte der Dokumentation verschlankt und digitalisiert wurden, bedeutet für ihre tägliche Arbeit:
- Ein Drittel der Patienten lässt sich im elektronischen Pflegebericht (eDekurs) allein mithilfe der Basisleitlinien abbilden; für ein weiteres Drittel gelten zusätzliche, spezifizierte Leitlinien, die auf einzelne Abteilungen abgestimmt sind.
- Bei diesen beiden Gruppen ist pflegediagnostisch im Schnitt kein erhöhtes Risiko oder aktuelles Problem gegeben, sodass sich ein pflegerischer Pfad in vordefinierter Breite anbietet. Im eDekurs werden einzig Abweichungen von diesen Pfaden dokumentiert
- Ein Drittel der Patienten bedarf dagegen einer Pflegeplanung: Sie orientiert sich am Prinzip „Risiko, aktuelles Problem und Prophylaxe“ (RaPP). Im IT-System ist hierfür ein Add-on installiert, das derzeit 25 RaPP-Bausteine wie Angst, Bewegungseinschränkung oder Sturz umfasst. Aus dieser Liste kann der für den einzelnen Patienten pflegerisch relevanteste Punkt ausgewählt werden, um alle sich daraus ergebenden Maßnahmen im Freitext zu subsumieren. Je nach Hauptproblem schlägt das System zusätzlich verschiedene evidenzbasierte Maßnahmen vor, über die ebenfalls individuell entschieden werden kann.
Neue Dokumentation spart Arbeitsstunden von 100 Vollzeitkräften im Jahr
Das AKH Wien spart nach eigenen Angaben seither bei der stationären Dokumentation einen Zeitumfang ein, der den jährlichen Nettoarbeitsstunden von 100 Vollzeitkräften entspricht – Zeit, die den Patienten zugutekommen soll. Erhöht hat sich dagegen der Grad an Nachvollziehbarkeit, Lesbarkeit, Verfügbarkeit und Vergleichbarkeit der Unterlagen: Die Pflegekräfte können nun von jedem Arbeitsplatz aus direkt auf die elektronischen Dokumentationen zugreifen.
Lohfert-Preis mit 20.000 Euro dotiert
Für diese Errungenschaft wurde das Gesamtprojekt unter der Leitung von Sabine Wolf (Foto unten l.), Direktorin des Pflegedienstes, vergangenen Monat mit dem Lohfert-Preis 2019 prämiert. Der Preis der Hamburger Christoph Lohfert Stiftung stand dieses Jahr unter dem Motto „Mehr Zeit für den Patienten – digitale Konzepte zur Entlastung der Pflege“. Die Christoph Lohfert Stiftung möchte mit ihrem Preis - dotiert mit 20.000 Euro - praxiserprobte, nachhaltige Projekte fördern, die Interessen und Bedürfnisse des stationären Patienten im Krankenhaus in den Mittelpunkt stellen.
Schlüssel zum Erfolg: Pflegeberaterinnen auf den Stationen
Dass die Verschlankung der Pflegedokumentation so gut gelungen ist, führt David Bayer besonders auf die Pflegeberaterinnen zurück, die auf sämtlichen Stationen tätig sind. „Sie waren inhaltlich federführend bei unserem Projekt. Dadurch, dass sie bei den Kollegen ein gutes Standing haben und akzeptiert sind, konnten sie in den Pflegebereichen alle ins Boot holen. Dieser partizipative Prozess war sicher ein Schlüssel zum Erfolg. Die Bausteine, die später in die IT eingingen, sind nach und nach gewachsen. Ein Kernteam aus vier Pflegeberaterinnen hat das von Klinik zu Klinik weitergetragen und dafür gesorgt, dass die Leitlinien-Idee im Blick blieb und keine neuen Inseln entstanden.“
Um die Leitlinien auszuformulieren, suchten die Verantwortlichen gleich zu Beginn eine rechtliche und pflegewissenschaftliche Begleitung. Den konkreten Transfer von der Theorie in die Praxis steuerten dann wieder die Pflegeberaterinnen: Nachdem die Stationsteams intensive Klassenraum-Schulungen zu allen inhaltlichen und technischen Fragen absolviert hatten, standen sie ihnen auch zur Seite, als das neue System schließlich auf den Stationen anlief.
Österreichisches Gesundheitsministerium empfiehlt die neue AKH-Dokumentation
Seit 2015 arbeiten die Pflegekräfte auf den Normalstationen mit den verschlankten Prozessen. Und inzwischen nicht nur sie: „Krankenhäuser im In- und Ausland haben Inhalte aus unserem Modell übernommen, vor zwei Jahren wurde unsere Philosophie darüber hinaus in der ‚Arbeitshilfe Pflegedokumentation‘ des österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen berücksichtigt“, sagt Bayer. „Dass unser Projekt eine solche Vorbildfunktion entfalten würde – das ist vielleicht für uns selbst die größte Überraschung. Denn 2009, als wir gestartet sind, hätten wir wirklich nicht im Traum gedacht, dass wir einmal so weit wirken könnten.“
Wer mehr über das Projekt „Vereinfachung und Vereinheitlichung der stationären Pflegedokumentation“ erfahren möchten, kann sich direkt an das AKH Wien wenden über die E-Mail-Adresse: post_akh_pdr@akhwien.at
Autorin: Nicole Lindgens
Gruppenfoto (unten): Michael Rauhe/Christoph Lohfert Stiftung