50 Pflegebedürftige allein versorgen – sagt Nein! Tretet Kolleginnen und Kollegen, die meinen, man solle sich nicht so anstellen, entschieden entgegen. Das habe ich zuletzt an dieser Stelle geschrieben – und ich muss sagen: Mein Besuch in Brüssel hat mich darin noch einmal bestätigt.
Was habe ich in Brüssel gemacht? Die UniGlobal Europe hatte mich zu einem Kongress eingeladen. UniGlobal Europe, das ist der europäische Gewerkschaftsverband, der für mehr als sieben Millionen Beschäftigte in Dienstleistungssektoren in Europa spricht. Dahinter stehen unglaubliche 252 nationale Gewerkschaften aus 50 Ländern.
Warum versagen bei Private Equity die Kontrollinstanzen?
Hauptthema dieses so besonderen Kongresstages war die Einflussnahme von Private Equity Betrieben im Gesundheitswesen in Europa – und die Folgen. Warum dominieren in ganz Europa immer mehr von privaten Investoren geführte stationäre Pflegeeinrichtungen und warum steigen privat geführte Gesundheitszentren wie Zahnarztpraxen, Röntgenpraxen und Augenkliniken wie Phönix aus der Asche? Wieso wird das gefährlich, wenn sich diese Investorengruppen nahezu ungebremst und zu häufig unkontrolliert im Bereich des Gesundheitswesens ausbreiten, weil staatliche Kontrollinstanzen immer wieder und nicht nur in Deutschland versagen?
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Zwanzig Minuten konnte ich über den Skandal in Schliersee sprechen – über die Folgen für die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Teams, über den immer noch nicht begonnenen Gerichtsprozess und die bittere Erkenntnis, die auch nach drei Jahren bei mir deutliche Spuren hinterlässt: Das ist kein Einzelfall – das zeigen mir die zahlreichen Zuschriften, die ich weiterhin erhalte.
Manche Gewerkschaft verzweifelt an Private Equity
Vor- und auch nach meinem Vortrag habe ich mit vielen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus unterschiedlichen Ländern gesprochen. Es gab viel Zuspruch – und immer wieder ein: „Das ist bei uns leider auch so!“ Ich war überrascht, wie groß das Problem auf europäischer Ebene ist. Es stimmte mich traurig, wie hilflos sich selbst einige Gewerkschaftsvertretungen in anderen Ländern gegenüber rein profitorientierten Altenpflegeträgern fühlen.
Die alternde Gesellschaft wird in ganz Europa – politisch und gesellschaftlich – völlig stiefmütterlich behandelt. In vielen Ländern mangelt es dramatisch an echten Entlastungen für pflegende Angehörige, besseren Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte und an effektiven staatlichen Kontrollinstanzen – ganz zu schweigen von innovativen Ideen und Projekten, um die Pflegemisere langfristig zu lösen.
Frust bei französischen Gewerkschaften über Orpea
Gleichzeitig tut es gut zu wissen: Wir sind nicht allein! Es wächst ein grenzüberschreitendes, europäisches Verständnis für die Probleme, es gibt mehr Informationsaustausch, Kommunikation und Vernetzung – in Brüssel haben wir dazu die ersten Schritte unternommen. Das war schon etwas Besonderes! Alle Besucher haben zugehört, nicht relativiert oder resigniert die Schultern hochgezogen und gesagt: „Das können wir eh nicht mehr ändern.“ Es herrschte eine erstaunliche Ehrlichkeit, die Gewerkschaften haben ihre Schwierigkeiten mit dem Private-Equity-System zugegeben und sich nicht mit Das-kriegen-wir-schon-hin-Phrasen in Eigenlob geflüchtet.
Ja – auch der Frust war spürbar. Ein Teilnehmer aus Frankreich fragte wütend: „Was hat die EU eigentlich in den letzten zehn bis zwanzig Jahren getan?“ Nach den furchtbaren Skandalen mit Orpea in Frankreich war ihm die Verzweiflung deutlich anzusehen.
Pflege als Geschäftsmodell – das darf nicht sein!
Ich ergänze: Was haben wir in unserem Land als Berufsstand getan, um vereint, lauter und deutlicher zu sagen, wo wir stehen und was wir brauchen? Damit wir unsere Arbeit so leisten können, wie wir es einmal gelernt haben? Wissen ist Macht – das bekannte Philosophen-Zitat würde ich gern modifizieren und stattdessen sagen: „Wissen stärkt uns und lässt unsere Macht wachsen.“ Ich habe in Brüssel viel Ehrlichkeit, Dankbarkeit und Transparenz erlebt, klare Haltungen und unverblümtes Benennen der Probleme.
Die Ehrlichkeit lohnt sich, weil es um das Wohl der pflegebedürftigen Menschen und unsere berufliche Zukunft geht! Private-Equity-Gesellschaften im Gesundheitswesen haben längst wie Kraken ihre Tentakel ausgestreckt, wie dies so treffend in Bastian Klamkes Zeichnung (siehe oben) zu sehen ist. Gesundheit und Pflege als lohnendes Geschäfts- und Investitionsmodell – das ist nicht neu, wird aber immer problematischer. Das liegt vor allem an einem hohem Maß an Intransparenz: Die Verantwortlichen sind oft nicht greifbar und die staatlichen Kontrollinstanzen agieren häufig wie zahnlose Tiger.
In den Niederlanden gibt es einen Renditedeckel für Investoren
Und trotzdem lässt sich etwas gegen die Misere unternehmen, es gibt vielversprechende Ansätze: In den Niederlanden etwa gibt es einen Renditedeckel für Investoren im Gesundheitswesen, um das vielbeklagte Credo „Profit statt Pflege“ zu durchkreuzen. Man könnte dieses Vorgehen doch zum europäischen Standard erheben – und dazu das Whistleblower-Schutzgesetz erweitern und stärken. Außerdem sollten die europäischen Länder endlich Reformen zur Stärkung der staatlichen Kontrollinstanzen angehen.
Auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, kommen jetzt wieder ins Spiel. Denn es kommt auch auf jeden Einzelnen an. Sie brauchen nicht nach Brüssel fahren, um über Ihre Erfahrungen zu berichten. Aber es stärkt Sie hoffentlich zu wissen, dass es weit über die deutschen Landesgrenzen rumort, dass Sie eben nicht allein sind und sich gemeinsam immer mehr erreichen lässt. Sie können gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Anfang machen.
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Wollen Sie wirklich für Private Equity arbeiten?
Prüfen Sie genau, wann Ihre Loyalität gegenüber einer profitorientierten Einrichtung enden sollte, und was Sie tun können, um auch Bewohner und Kollegen zu schützen.
Wie so häufig wird auch die Grand-Dame Europa mit all ihren Akteuren das Problem nicht von heute auf morgen lösen. Es ist ein langer Weg. Aber wie großartig wäre es doch, wenn wir uns mit unserer klaren pflegeprofessionellen Haltung der Aufbruchsstimmung von Brüssel anschließen und nicht dem „Drei Affen-Modell – nichts hören, nichts sehen, nichts sagen“. Denken Sie darüber nach, seien Sie stark und vor allem ehrlich! Ich glaube immer noch, dass es sich lohnt - und nach der Erfahrung in Brüssel bin ich umso entschlossener.
Über Andrea Würtz
Die Kinderkrankenschwester, Jahrgang 1977, hat im Mai 2020 die Missstände in der Seniorenresidenz in Schliersee aufgedeckt. Damals war sie für das Gesundheitsamt tätig. Seit Ihrem Examen im Jahr 2001 hat sie viele Bereiche im Gesundheitswesen kennengelernt, darunter die ambulante Kinderintensivpflege, die Arbeit im Frühchen-IMC, in der OP-Anästhesiepflege und als Study Nurse im Bereich Onkologie. Außerdem war sie PDL in der Tagespflege und Hygienebeauftragte. Seit Schliersee kämpft sie gegen Missstände in der Pflege an.