Völlig abgekoppelt von dem Pflege-Sofortprogramm ist die ambulante Pflege. Dies ist unerklärlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass immer mehr Pflegedienste keine neuen Patienten mehr aufnehmen, sich verkleinern oder gar ihre Versorgungsverträge zurückgeben. Allein in Niedersachsen spricht man davon, dass acht Patienten pro Pflegedienst nicht mehr versorgt werden, weil einfach das Personal fehlt. Dabei lautet der Grundsatz doch seit über 20 Jahren „ambulant vor stationär“. Dieser Grundsatz wird aber ad absurdum geführt, wenn man lediglich im Krankenhausbereich und in der stationären Altenpflege marginal Stellen aufbaut. Die mittelfristig auflaufenden Mehrkosten für das gesamte System, wenn die ambulante Pflege ausblutet, wird die heutige Politikergeneration zwar zu verantworten haben – zur Verantwortung aber wird sie niemals gezogen werden.
Und in der stationären Altenpflege gibt es nur einen Tropfen auf den heißen Stein: Ob es nun 8.000 Stellen oder 13.000 Stellen für die Altenpflege sind - es bleibt dabei: Es gibt derzeit 13.000 stationäre Einrichtungen. Somit gibt es pro Einrichtung eine Brutto-Vollzeitstelle, was in Netto-Arbeitszeit heruntergerechnet noch etwa 17 Dienste im Monat entspricht. Eine Einrichtung mit 3 Wohnbereichen hat somit für Früh-, Spät- und Nachtdienst circa 6 Dienste im Monat mehr zu vergeben. Jeder Praktiker weiß, dass eine Krankmeldung über 6 Tage diesen ohnehin nur marginalen Effekt wieder pulverisiert.
Spahn verstrickt sich in Widersprüche
Nun sollte man Jens Spahn seine 100 Tage Schonfrist zugestehen. Doch spätestens am 101. Tag seiner Amtszeit sollte er sich Gedanken machen, ob sein Ziel „Vertrauen in die Politik zurückzuholen“ mit dieser Symbolpolitik erreichbar ist. Zudem ist die Finanzierungsfrage völlig offen, Spahn verstrickt sich in Widersprüche: Einerseits sollen die Krankenkassenbeiträge sinken, andererseits die neu zu schaffenden Stellen über die Kassen finanziert werden.
Angela Merkel muss Pflege zur Chefsache machen
Es wird Zeit, dass die Kanzlerin aus ihrem Tiefschlaf erwacht und die Pflege zur Chefsache erklärt. Nur so kann die Politik Vertrauen zurückgewinnen. Es muss der unbedingte Wille erkennbar sein, den Pflegenotstand aufgrund des Personalmangels abzuwenden. Hier liefert der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) eine realistische Zahl: Dem DBfK zufolge fehlen mindestsens 100.000 Stellen im System. Das ist die Messlatte, an der Spahn und seine Kabinettskollegen zu messen sind!
Über Birger Schlürmann
Birger Schlürmann blickt auf 25 Jahre Erfahrung in der ambulanten und stationären Pflege zurück. Seit 17 Jahren ist er beratend tätig – unterbrochen von einem Ausflug in das operative Geschäft. Seit zehn Jahren ist er außerdem Chefredakteur beim Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG und betreut dort den Fachinformationsdienst "Wirtschaftlich erfolgreich im Pflegedienst". Bei der Schlüterschen Verlagsgesellschaft ist von ihm 2015 das Buch „Wachstumsmarkt Ambulante Pflege“ erschienen.
Autor: Birger Schlürmann (Foto unten)