Das Jahr 2023 begann düster für Bewohner und Mitarbeiter der Curata Care: Am 6. Januar verkündete die Pflegeheimgruppe (36 Pflegeheime), dass es in die eigenverwaltete Insolvenz gehen müsse. Nur knapp drei Wochen später folgte die Bremer Conivo-Unternehmensgruppe (62 Pflegeheime).
Weitere kleine und größere Pflegeheimketten haben seither ebenfalls Insolvenz angemeldet. Spektakulär is auch der Fall der Dorea-Familie (76 Pflegeheime), die Ende April beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg einen Antrag auf Einleitung eines Schutzschirmverfahrens in Eigenverwaltung stellte.
Fast die Hälfte der Pflege-Anbieter rechnet mit roten Zahlen
So kommen für die ersten vier Monate dieses Jahres 18.600 vollstationäre Pflegeplätze zusammen, die von Großinsolvenzen und Schutzschirmverfahren betroffen sind. Die vielen kleineren Insolvenzen tauchen in den Statistiken erst gar nicht auf.
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Wie dramatisch die Situation zu sein scheint, unterlegt auch eine Umfrage des Bundesverband privater Anbieter unter knapp 2.500 Pflegeheimen und ambulanten Diensten: Danach sehen fast 70 Prozent der Pflegeeinrichtungen in Deutschland ihre wirtschaftliche Existenz als bedroht an. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Befragung der Bank für Sozialwirtschaft, in der 40 Prozent der teilnehmenden Einrichtungen für dieses Jahr mit einem negativen Betriebsergebnis rechnen.
4 Gründe für die prekäre Lage von Pflegeheimen und Pflegediensten
Was ist los im deutschen Pflegemarkt? Schwappt eine Insolvenzwelle über die Pflegebranche? Den Zahlen nach ja. Und es gibt eine Reihe von Gründen, die das erklären.
1. Grund: Fachkräftemangel
Es ist vor allem der Mangel an Pflegekräften, der die Einrichtungen in die Krise treibt. Im Schnitt können die Betreiber zurzeit gerade einmal 82 Prozent ihrer Betten auslasten, weil Mitarbeiter fehlen. Über 95 Prozent müssten es aber sein, um die Kosten zu refinanzieren. Besonders die bisher geltende Fachkraftquote von 50 Prozent mache den Betreibern zu schaffen, so der Geschäftsführer des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) Andreas Wedeking gegenüber aerzteblatt.de. Denn „dieses Fachpersonal brauche ich nicht rund um die Uhr, sondern nur zu bestimmten Zeiten in der Woche oder am Tag.“ Die Heimaufsicht aber verlange diese Quote tagesgenau. „Wird sie auch nur knapp verfehlt, weil sich etwa eine Fachkraftstelle gerade nicht besetzen lässt, fallen Pflegeplätze aus dem Angebot – was dann die wirtschaftliche Not der Heime verschärft.“
2. Grund: höhere Kosten (Energiekosten, Inflation, Tariftreue)
Ein weiterer Grund sind die massiven Kostensteigerungen in den letzten zwölf Monaten. Die hohen Energiekosten, die Inflation bei Lebensmitteln und dann noch die Tarifpflicht sind vor allem für kleinere Anbieter kaum zu stemmen. Auch, weil es Monate braucht bis die Pflegekassen die gestiegenen Kosten anerkennen und ausgleichen. Die Refinanzierung der Pflegeeinrichtungen läuft den Kosten dauerhaft hinterher. Gerade kleinere Heimbetreiber können da nur eine begrenzte Zeit durchhalten.
3. Grund: steigende Mieten – Stichwort Index-Pacht
Vor allem die Mietkosten schlagen langfristig auf die Erträge. Viele Immobilien werden von den Heimbetreibern nur gepachtet. Und hier ist eine Index-Pacht üblich, die sich an der Inflation orientiert. Steigen also die Preise, steigt die Pacht – zuletzt um über sieben Prozent. Das lässt sich dann kaum noch auffangen.
4. Grund: Kaufen auf Kredit
Ein weiterer Grund für die Pleitewelle ist bei den in den letzten Jahren zusammengekauften Pflegeketten zu finden. Hinter denen stehen nämlich oft Private-Equity-Firmen, die den deutschen Pflegemarkt als lukrative Anlage entdeckt haben. Diese finanzieren die Käufe in der Regel auf Kredit. Das ging lange gut – solange wie die Zinsen niedrig, nämlich knapp über Null lagen. Nun sind die Zinsen auf vier, fünf Prozent gestiegen. Und damit funktioniert das Modell nicht mehr. Da heißt es bei einigen: Möglichst schnell raus aus dem Markt. Und mit einer Insolvenz klappt das dann auch auf die Schnelle.
Kein Wunder, dass „Der Spiegel“ Mitte Mai unter dem Titel „Das Pflege-Fiasko“ mächtig auf Drama machte: „Durch die Branche rollt eine Insolvenzwelle, Hunderte Altenheime stehen vor der Pleite. Wie konnte ein System, das auch renditehungrige Konzerne anlockte, so schnell in Schieflage geraten?“
2022 verschwanden 600 Heime und ambulante Dienste
Aber gemach, gemach. Pleiten, Insolvenzen und Geschäftsaufgaben sind schon seit vielen Jahren Teil der ambulanten und stationären Langzeitpflege. Der Branchendienst Pflegemarkt.de zählte rund 600 Pflegeeinrichtungen, die allein 2022 vom Markt verschwanden. Wenn man das als Fiasko bezeichnen möchte, gehört dieses Fiasko zum Wesen des Pflegemarktes. Auch Matthias Gruß, Gewerkschaftssekretär für Gesundheitswesen und -politik bei Verdi, sagt, er sehe die momentane zwar kritisch: „Aber es ist normal, dass immer wieder mal ein Heim Insolvenz anmelden oder gar schließen muss“.
Insolvenz heißt nicht unbedingt, dass das Heim schließt
Hinzu kommt: Denn Insolvenz heißt noch lange nicht, dass die Heime auch schließen. Insolvenz in der Pflege bedeutet, dass ein Pflegeunternehmen seine Schulden nicht mehr begleichen kann und zahlungsunfähig ist. Das kann dazu führen, dass der Träger des ambulanten Dienstes oder des Pflegeheims schließt und Mitarbeiter entlässt – aber das muss nicht sein. In der Regel stellt der Träger die Einrichtung finanziell neu auf. Und dann geht es weiter. Oder es findet sich ein neuer Betreiber, oft aus der Wohlfahrtspflege.
[Sie legen Wert auf Exklusiv-Interviews und fundierte Recherche aus der Pflegebranche? Dann abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter, damit Sie keinen neuen Beitrag auf pflegen-online mehr verpassen!]
Gesundheitsökonom Jürgen Wasem und Verdi bleiben gelassen
Bleibt die Frage, ob sich die derzeitige Insolvenz-Welle verstetigt oder sich die Situation bald wieder entspannen wird? Gesundheitsökonom Jürgen Wasem gibt Entwarnung (ähnlich wie die Gewerkschaft Verdi – siehe weiter oben). Zwar seien derzeit die Rahmenbedingungen schwieriger, von einem strukturellen Problem will der Professor an der Uni Duisburg-Essen aber nicht sprechen: „Die Pflegeheime hatten in den letzten zwei Jahren eine relativ entspannte Situation dadurch, dass der Bundesgesetzgeber wegen Corona einen Rettungsschirm aufgespannt hat. Der fällt dieses Jahr weg. Das kann dann auch heißen, dass Heime eigentlich schon in den letzten ein bis zwei Jahren Probleme hatten. Die sind nicht sichtbar geworden und die haben sich jetzt aufgetürmt“, so Wasem gegenüber dem MDR (Mitteldeutschen Rundfunk). Eine länger anhaltende Pleitewelle sehe er nicht.
Denn es gibt eben nicht nur Insolvenzen sondern auch jede Menge Neugründungen. Bis April 2023 verzeichnete das Gründungsradar vom Pflegemarkt.com 150 neue Pflegedienste und 38 Neueröffnungen von Pflegeheimen mit 2.817 Plätzen. Und auch die Tagespflege wächst. Hier wurden 1.956 neue Plätze eingerichtet.
Autor: Hans-Georg Sausse