Der Arbeitgeberverband Pflege, der die privaten Träger vertritt, spricht von „Tarifzwang“, von „einem massiven Eingreifen des Bundestags in die Lohnfindung“. Was den Arbeitgeber ärgert, so ließe sich in gewohnter Logik schließen, sollte den Arbeitnehmer freuen. Aber so einfach ist das nicht bei der Pflegereform, die am 11. Juni gegen die Stimmen aller Fraktionen in der Opposition (Grüne, Linke, FDP und AfD) im Bundestag verabschiedet wurde.
Nur Träger, die Tarif zahlen, werden zugelassen
Beim ersten Hören klingt die Entscheidung zur Lohnentwicklung in der Altenpflege hoffnungsvoll für Pflegekräfte. Vor allem für die Pflegekräfte, die bei privaten Trägern angestellt sind. Diejenigen, die etwa bei kirchlichen Trägern arbeiten, verdienen meistens jetzt schon verhältnismäßig gut. Deshalb soll ihr Gehalt auch als Maßstab dienen. Von einer Orientierung an kirchlichen Trägern oder Tarifen ist in dem Gesetzespassus zu den Löhnen in der Altenpflege die Rede. Das Bundesgesundheitsministerium fasst seine Vorgaben in einer Pressemitteilung zur Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), zu dem auch die von der Branche so genannte Pflegereform gehört, so zusammen: Es werden, so heißt es, „ab dem 1. September 2022 nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif oder kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen bezahlen oder mindestens in Höhe eines Tarifvertrags oder einer kirchenarbeitsrechtlichen Regelung entlohnen“.
Richtige Tarifverträge sind selten in der Altenpflege
In dem Passus ist viel von Tarifen die Rede. Nun ist aber gerade das Fehlen von richtigen, mit Gewerkschaften ausgehandelten Tarifen (so wie man sie etwa von kommunalen Krankenhäusern kennt) das Problem der Altenpflege. Es gibt kaum Tarifverträge, weil nur ganz wenige Arbeitnehmer in der Branche gewerkschaftlich organisiert sind. Die Konzertierte Aktion Pflege (KAP) – initiiert der inzwischen zerstrittenen Minister Hubertus Heil (Arbeit, SPD) und Jens Spahn (Gesundheit, CDU) und der inzwischen aus dem Amt geschiedenen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) – wollte das Problem durch einen Flächentarifvertrag lösen.
Kurze Zeit war ein Flächentarifvertrag zum Greifen nah
Dieser Flächentarifvertrag, der für sämtliche Träger bindend gewesen wäre, erforderte eine hochkomplizierte Herangehensweise, weil er auf natürliche, organische Weise nicht hätte zustande kommen können (eben, weil Altenpflegerinnen und Altenpfleger an Gewerkschaften nicht interessiert sind). Trotz der Komplexität und Fragilität des Vorhabens sah es nahezu zwei Jahre gut aus für den Flächentarifvertrag. Es gab eine gewisse Einigkeit unter den Trägern: Die kirchlichen Träger versprachen, ausnahmsweise von ihrem traditionellen Dritten Weg in der Lohnfindung abzuweichen; die nicht-kirchlichen freigemeinnützigen Träger gründeten sogar einen neuen Arbeitgeberverband (BVAP), der sich zum Ziel setzte, einen Flächentarifvertrag für die gesamte Branche auszuhandeln. Hinter dem BVAP standen Pflegeanbieter und Verbände wie der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Paritätische Gesamtverband und die Volksolidarität. Der BVAP hatte erst Anfang Februar 2021 mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi den Pilot-Tarifvertrag besiegelt. Doch dann, als es nur noch um die als Formalie empfundene Zustimmung der kirchlichen Träger ging, hat die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas einheitliche Tarife abgelehnt.
Was soll man sich den im GVWG erwähnten Tarif vorstellen?
Trotzdem ist in der Pflegereform von Tarifen die Rede. Es geht in dem neuen Gesetz aber gar nicht um einen bestimmten, genauer definierten Tarif – etwa um einen bundesweit vorbildlichen Tarif, wie er hier und da auch in der Altenpflege existieren mag. Es geht auch nicht darum, dass der Träger, der nun durchs Gesetz aufgerufen ist, seine Vergütungsstruktur zu überarbeiten, selbst einen Tarif aushandelt. Nein: Er muss nur zahlen wie ein Pflegeheim mit Tarif oder wie ein Träger, der nach kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen bezahlt.
Heime können sich auch an Haustarifverträgen orientieren
An welchem Tarifvertrag sich ein Pflegeheim genau orientiert, lässt das Gesetz offen. Es kann ein wenig attraktiver Haustarifvertrag sein (der sich vielleicht noch unter dem eigenen Lohngefüge befindet) oder ein Flächentarifvertrag. Damit ist aber die ursprüngliche Idee der KAP, ein bundeseinheitlich hohes Gehaltsgefüge in der Altenpflege herzustellen, infrage gestellt. Es kann zu einem Flickenteppich der Tarife kommen mit großen regionalen Unterschieden. Die Gehälter könnten damit mancherorts nicht nur sehr weit unter dem von den Pflegeverbänden und Pflegekammern beschworenen Einstiegsgehalt von 4.000 Euro im Monat bleiben: Sie könnten sich auch sehr weit unter dem bewegen, was kirchliche Träger wie die Diakonie und die Caritas zahlen.
Autorin: Kirsten Gaede