Die gute Nachricht zuerst: „Den meisten Betroffenen können wir helfen“, sagt Dr. med. Beate Schmucker, Ressortleiterin Medizin bei den BG Kliniken (Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung) über die Corona-Erkrankten, die an Long-/Post-Covid-Symptomen leiden. Corona sei aber weiterhin eine Herausforderung und der Weg für viele Long-/Post-Covid-Betroffene ein weiter: „Es dauert lange. Und es geht oft nur in kleinen Schritten voran,“ so ihre Erfahrungen aus fast zwei Jahren Beobachtung der therapeutischen Arbeit mit Long-/Post-Covid-Betroffenen in den BG Kliniken. Es gebe „leider auch die Fälle, die bis zu 25 verschiedene Beschwerden haben. Da müssen wir erst einmal ausklamüsern, wo da die Zusammenhänge sind. Es entstehen ganz, ganz bunte Bilder. Die behandelnden Ärzte lernen täglich dazu.“
Covid als Berufskrankheit: Gut 80.000 Fälle in der Branche Pflege
Die schlechte Nachricht: Auch die aktuellen Zahlen der BGW skizzieren ein weiterhin dramatisches Bild der Covid-Pandemie in der Gesundheitsbranche. Weiterhin werden der Berufsgenossenschaft jede Woche neue Covid-Verdachtsfälle gemeldet – obwohl die Pandemie offiziell für beendet erklärt wurde. Insgesamt 119.946 meldepflichtige Verdachtsmeldungen auf eine beruflich bedingte Covid-19-Erkrankung wurden der BGW bis einschließlich 28. Februar 2023 in der Branche Pflege gemeldet. Davon sind bisher 113.861 Fälle entschieden, in 79.187 Fällen wurde die Berufskrankheit anerkannt. Aber: Noch sind nicht alle Fälle abgeschlossen, denn aufgrund der extrem hohen Fallzahl verzögert sich die Bearbeitung.
Pflegende häufiger von Long-/Post-Covid betroffen als andere Berufsgruppen
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Dies nur die Zahlen der BGW, die aber nicht alle Pflegekräfte erfassen. Besonders im kommunalen Bereich sind viele Pflegekräfte über Unfallkassen versichert. Nach den Statistiken der DGUV kommen hier noch mal rund 25 Prozent Covid-Erkrankungen hinzu. Allerdings werden bei der DGUV die Zahlen nur einmal jährlich aufgeschlüsselt – für 2022 liegen sie erst im Frühjahr 2023 vor.
Auch die Zahlen der Pflegekräfte, die langfristig unter den Folgen der Corona-Infektion leiden, also Long-Covid und Post-Covid Symptome ausbilden, steigen. In den Statistiken der AOK nehmen Berufe der Gesundheits- und Krankenpflege mit 6,6 Prozent den Spitzenplatz der Berufsgruppen mit langfristigen Erkrankungssymptomen ein. Knapp dahinter folgt die Altenpflege mit 6,4 Prozent.
Zurzeit 1.215 Covid-Reha-Patienten aus der Branche Pflege
Bis zu 15 Prozent der Long-Covid-Betroffenen rutschen in eine Post-Covid-Symptomatik. Was bedeutet, dass immer mehr Pflegekräfte auch nach der überstandenen Corona-Infektion für viele weitere Monate nicht arbeitsfähig sind. So werden derzeit von den BGW-Versicherten mit bisher anerkannter COVID-19-Berufserkrankung in der Branche Pflege 1.215 vom Reha-Management der BGW unterstützt. Sie sind also langfristig schwerer erkrankt und fallen somit unter die Definition des Post-Covid-Syndroms. Doch wann spricht man von Long-Covid und wann von Post-Covid?
Von Long-Covid spricht man, wenn auch vier Wochen nach dem Abklingen der akuten Infektion Symptome einer Erkrankung bestehen. Post-Covid heißt die Erkrankung, wenn sich die Beschwerden auch noch drei Monate nach der Infektion nicht gebessert haben und den Alltag stark beeinträchtigen.
Zur exakteren Bestimmung hilft die aktuelle S1-Leitlinie der AWMF (www.awmf.org), die vier Kategorien von Long-/Post-Covid definiert:
- Symptome aus der akuten COVID-19-Phase oder aus deren Behandlung bestehen weiterhin.
- Es gibt Symptome, die zu einer neuen gesundheitlichen Einschränkung geführt haben.
- Patienten leiden an neuen Symptomen, welche nach Ende der akuten Phase aufgetreten sind, aber als Folge der COVID-19-Erkrankung verstanden werden.
- Eine Grunderkrankung des Patienten hat sich durch die Covid-Infektion verschlechtert.
„Die häufigsten Symptome sind Müdigkeit, Erschöpfung, aber auch Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwächen“, sagt Beate Schmucker aus den Rückmeldungen der Kliniken. „Aber auch Atmungsprobleme treten auf und oft findet man dann nichts an der Lunge.“ Long-/Post-Covid warte weiterhin mit vielen unerklärlichen Symptomen auf, daher müsse „es noch ganz viel Forschung geben“.
ME/CFS-Symptome bei rund 50 Prozent der Long-Covid-Fälle
Zum Beispiel wenn es um ME/CFS-Symptome geht. Besonders bei schweren Covid-Verläufen entwickeln viele Erkrankte ME/CFS. Internationale Studien belegen, dass bis zu 50 Prozent der Long-Covid-Erkrankten an typischen ME/CFS-Symptomen leiden.
Das Kürzel ME/CFS steht für Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue-Syndrom und ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft nach Viruserkrankungen auftritt und bislang noch nicht umfassend erforscht ist. Denn die Ursachen sind bisher noch nicht gut verstanden, meistens ist es nicht das Virus selbst, sondern wahrscheinlich das Immunsystem, das nach der Infektion nicht wieder zur Ruhe kommt.
ME/CFS: „Die letzte große unerforschte Krankheit“
ME/CFS-Erkrankte leiden unter einer ausgeprägten Zustandsverschlechterung ihrer Symptome nach geringer körperlicher und geistiger Belastung. Dazu gehören krankhafte Erschöpfung, kognitive Störungen, ausgeprägte Schmerzen, eine Überempfindlichkeit auf Sinnesreize und eine Störung des Immunsystems sowie des autonomen Nervensystems.
„ME/CFS ist die letzte große unerforschte Krankheit und in Folge der Pandemie steigen die Zahlen rasant an und die Versorgungsnot ist noch größer geworden“, sagt Prof. Carmen Scheibenbogen, Vorsitzende des Ärztlichen Beirat der deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V. Und: „Wir sehen immer mehr Menschen mit ME/CFS nach COVID-19, was den Handlungsbedarf noch dringlicher macht.“
Die Berufsgenossenschaft hat deshalb gemeinsam mit Expertinnen der BG Kliniken ein Reha-Post-Covid-Programm entwickelt, das von der Beratung und Diagnostik bis hin zu stationärer Rehabilitation und ambulanter Nachbetreuung ein umfangreiches Hilfs- und Therapie-Angebot umfasst.
Die 3 Schritte des Post-/Long-Covid-Programms
1. Schritt: Die Post-Covid-Beratung
Wenn betroffene Pflegende Long-Covid-Folgen an die BGW melden, kontaktieren die Sacharbeiter dort die Experten der BG Kliniken, die mit strukturierten Fragebögen eine Erst-Diagnose erstellen.
2. Schritt: Die Post-Covid-Sprechstunde
In dieser ambulanten Sprechstunde besprechen die Experten gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten die weitere Diagnostik- und Therapieplanung. Das kann zunächst in einem Post-Covid-Check oder bereits aus einem individuellen Reha-Therapieprogramm bestehen. Die Untersuchung übernehmen je nach Krankheitsbild die verschiedenen Fachärzte, begleitet vom Reha-Management der zuständigen Berufsgenossenschaft oder Unfallkasse.
3. Schritt: Post-Covid-Check
Für Versicherte mit Langzeitfolgen haben die BG Kliniken einen „Post-Covid-Check“ (PCC) entwickelt, der auf Betroffene mit anhaltenden neurologischen und psychischen Symptomen zugeschnitten ist. Dabei handelt es sich um ein bis zu zehntägiges Abklärungsverfahren an dessen Ende in einer interdisziplinären Fallkonferenz mögliche Therapieoptionen definiert werden.
[Sie legen Wert auf Exklusiv-Interviews und fundierte Recherche aus der Pflegebranche? Dann abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter, damit Sie keinen neuen Beitrag auf pflegen-online mehr verpassen!]
Nach Post-Covid-Reha: Sanfte Rückkehr in den Beruf
Auch bei der Wiedereingliederung in Arbeits-Alltag unterstützt die BGW die Pflegekräfte. So bietet die Berufsgenossenschaft eine sogenannte „Belastungserprobung“ an, um über eine erst mal verminderte Arbeitszeit von zum Beispiel vier Stunden am Tag die Arbeitsfähigkeit zu testen. In der Regel dauert eine Belastungserprobung vier bis sechs Wochen – in Einzelfällen auch länger. In dieser Zeit besteht weiterhin Arbeitsunfähigkeit und die BGW zahlt Verletztengeld an die Pflegekräfte.
Auch wenn die Reha-Maßnahmen den Betroffenen oft viel Geduld abfordern, letztendlich ist es dies der einzige Weg, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die gezielte Behandlung in den BG Kliniken wirkt, wie auch Dr. Andreas Gonschorek, Leiter des Neurozentrums am BG Klinikum Hamburg bestätigt: „Eine große Mehrheit hat nach unseren Erkenntnissen eine gute Prognose, zu genesen und in absehbarer Zeit in den Beruf zurückzukehren.”
Autor: Hans-Georg Sausse