Die Situation, die die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen befürchtet, lässt sich in etwa so skizzieren: Damit alles wie am Schnürchen läuft mit dem neuen Qualifikationsmix aus Pflegefachkräften, Pflegeassistenten und ungelernten Pflegehilfskräften gibt es nun mit der neuen Personalbemessung (PeBeM) Interventionspläne und Checklisten und für die Pflegefachkräfte Tourenpläne, die sie von der Einrichtungsleitung erhält. Jede Pflegekraft arbeitetet das ihrer Qualifizierung gemäße ab. Bewohner werden nicht mehr ganzheitlich betrachtet, es herrscht Funktionspflege so wie sie mit großem Eifer in den 80er Jahren in deutschen Krankenhäusern praktiziert wurde.
„Es kommt zur Umsetzung von z.T. digital generierten, nicht individuell und an den tatsächlichen, tagesaktuellen Bedarfen der Bewohner*innen geplanten Interventionskatalogen“, heißt es in der Stellungnahme der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen. „Tourenplanungen o.ä. untergraben jede Art einer bewohner*innen- sowie lebensweltorientierten Versorgung und legen das Selbstverständnis der Eigenständigkeit der Profession ad acta.“
Pflegekammer: 50 Prozent Fachkraftquote noch nicht aufgeben!
Die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen fordert das Bundesgesundheitsministerium auf, die gesetzlichen Regelungen nachzuarbeiten. Mit dem Gutachten des Pflegewissenschaftlers Heinz Rothgang Universität Bremen/Socium Forschungszentrum), auf dem die gesetzlichen Regelungen basieren, ist die Pflegekammer NRW grundsätzlich einverstanden – das betont sie an mehreren Stellen ihrer Stellungnahme. Doch die Umsetzung des Gutachtens in eine gesetzliche Regelung schieße an vielen Stellen übers Ziel hinaus und sei oft zu strikt. So ruft die Kammer dazu auf, bei der Qualifikation nicht nur auf Abschlüsse zu schauen, sondern auch auf Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten.
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Auch warnt die Pflegekammer Nordrhein-Westfalen zu erlauben, dass Bundesländer bereits jetzt die Fachkraftquote von 50 Prozent fallen lassen. In Mecklenburg-Vorpommern ist dies schon geschehen. Doch das bedrohe die „pflegerische Versorgungsqualität der Bevölkerung“ heißt es in der Stellungnahme: Es müsse zunächst ausgeschlossen werden, das sich mit der PeBeM keine Funktionspflege etabliere, der dann „im Bedarfsfall“ mit ausreichend Fachpersonal begegnet werden könne. Was die Pflegekammer ebenfalls enttäuscht: Die Pflegefachkraft mit akademischen Abschluss wird in der gesetzlichen Regelung nicht erwähnt – im Rothgang-Gutachten hingegen ist sie noch berücksichtigt.
Die 20 Forderungen der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen im Wortlaut:
- Wir fordern die dringende Nacherarbeitung gesetzlicher Begleitprozesse der Personalbemessung unter Berücksichtigung pflegerischer Fachexpert*innen, wie der Änderungen des Landesrahmenvertrages (z.B. für Qualitätsniveau 2) oder der Anpassung der Personalanhaltszahlen.
- Pflegerische Fachexpert*innen müssen konsequent bei allen Verhandlungen rund um die Personalbemessung von Anfang an einbezogen werden.
- Es muss eine Neugestaltung der Pflegesatzverhandlungen geben, v.a. für NRW, aber auch in allen anderen Bundesländern.
- Grundlage der Umsetzung der gesetzlichen fixierten Qualitätsniveaus anhand der jeweiligen Bewohner*innen-Pflegegrade muss ein ganzheitliches Pflegeverständnis sein. Funktionspflege im Pflegeprozess wird abgelehnt. Pflegefachpersonen sollen sich im Rahmen dieser Personalumstrukturierung vor allem als Lots*innen im Pflegeprozess verstehen: Sie sind für die Steuerung des Gesamtprozesses des Assessments, der Durchführung sowie der Evaluation aller pflegerischen Bemühungen und die mögliche Delegation entsprechender Tätigkeiten an die weiteren Qualifikationsniveaus zuständig. Sie sollten im Rahmen dieses umfassenden, komplexen Prozesses durch akademisierten Pflegefachpersonen, wie z.B. APN’s/CHN’s, unterstützt werden.
- Wir fordern grundsätzlich eine individuelle, bedarfsinterne Umsetzung der pflegerischen Vorbehaltsaufgaben.
- Wir fordern die übergangsweise Beibehaltung der gesetzlich fixierten Fachpersonalquoten von mindestens 50 Prozent um den pflegerischen Versorgungsauftrag der Bevölkerung zu allen Zeitpunkten in den stationären Langzeitpflegeeinrichtungen sicherstellen zu können.
- Wir fordern die Umsetzung von Springerpools nach Grundlage des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG).
- Personalregelungen müssen hinsichtlich pflegesensibler sowie organisationsbezogener Ergebniskriterien evaluiert und zukünftig entsprechend umgestellt werden.
- Wir fordern die Umsetzung von Modellprojekten abseits strikter Personalbemessungen zur Steigerung der Versorgungsqualität (z.B. Primary Nursing).
- Eine Übernahme aller bisher beschäftigten Assistenzmitarbeiter*innen muss je nach Qualifikationsniveau gesichert werden.
- Zum Personalausbau der unteren Qualitätsniveaus bedarf es qualitativ hochwertiger Ausbildungsstrukturen, die dringend weiter ausgebaut werden müssen, vor allem im Q3-Bereich, um den steigenden Bedarfen in Folge der gesetzlichen Regelungen gerecht zu werden.
- Wir fordern die individuellen Umstrukturierungen auf Einrichtungsebene und nicht die Umsetzung von Rahmenprojektplänen, die den individuellen Ressourcen nicht gerecht werden. Personelle Entwicklungskonzepte müssen im Fokus der Bemühungen stehen und nicht Organisationsveränderungen im Sinne erhöhter Wirtschaftlichkeit.
- Zur Umsetzung der einrichtungsindividuellen Personalbemessung wird ein wissenschaftlich geleitetes Projektmanagement inklusive Assessment, Planung, Implementierung und Evaluation dringend empfohlen. Der Veränderungsprozess muss durch ein strukturiertes Changemanagement begleitet werden. Dabei sollen offene Fehlerkulturen und die aktive Partizipation aller Mitarbeiter*innen in den Veränderungsprozess integriert werden.
- Zur Unterstützung der Umstrukturierungsprozesse sowie zur Steigerung der Effektivität und Effizienz der pflegerischen Bemühungen wird die Implementierung digitaler Dokumentationssystemen in allen Einrichtungen als notwendig gesehen.
- Unterstützung der einrichtungsbezogenen personellen Umstrukturierung durch Externe Beratungen werden grundsätzlich befürwortet, bedürfen aber einer genauen Prüfung, ob diese die Umsetzung nach den oben genannten Prinzipien entsprechen. Die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens darf nicht im Fokus der Bemühungen stehen, sondern die Umgestaltung hin zu einer qualitativ hochwertigen pflegerischen Versorgung unter Nutzung und Ausbau der bisherigen personellen Ressourcen und Gegebenheiten.
- Wir fordern die Entwicklung, Implementierung und Evaluationen von akademisierten Pflegefachpersonen im Bereich der vollstationären Pflegeeinrichtungen im Sinne außerklinischer APN bzw. Community Health Care Nurse Rollen zur Unterstützung einer ganzheitlichen, umfänglichen, bewohner*innenorientierten Versorgung.
- Wir fordern die Unterstützung eines bedarfsgerechten Qualifikationsmixes mit Aufstockung und Ausbau aller Qualifikationsniveaus.
- Wir fordern die Tarif-Parteien auf bessere Entlohnungen zur Anerkennung der zunehmenden komplexeren Anforderungen an die Profession Pflege zu verhandeln. Die Rahmenbedingungen müssen dringend eine Änderung erfahren, um zukünftig hoch qualifiziertes Personal aller Niveaus in der stationären Langzeitpflege einstellen und halten zu können.
- Alle zukünftigen Bemühungen müssen bundeseinheitliche Regelungen zur Personalbemessung in der stationären Langzeitpflege forcieren.
- Wir fordern alle betreffenden Pflegefachpersonen, Pflegehilfskräfte sowie die Managementstrukturen auf die oben dargestellten Implikationen für ihre Einrichtungen individuell zu prüfen und aktiv einzufordern. Pflege als Profession darf nicht handlungsunfähig zu schauen, sondern muss als Profession aktiv für die eigenen Kompetenzen und deren Stärken abseits jeglicher, nicht zielführender Personalgrenzen einstehen! Dies fordern wir auf politischer, kommunaler aber auch auf der Mikroebene der Einrichtungen.
Hier geht’s zur Stellungnahme der Pflegekammer Nordrhein-Westfalen (12 Seiten)
Hier geht’s zur Kurzfassung der Stellungnahme (8 Seiten)
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