Um Weihnachten herum, am Ende einer kleinen Party sagte ihn wieder jemand, diesen ätzenden Satz: „Die fliehen doch alle, in dem Beruf will doch keiner mehr arbeiten.“ Es gebe keine Zahlen, die das belegten, erwiderte ich. Die Freundin der Gastgeberin gab kühl zurück, das sei nun wirklich überall zu lesen, und wandte sich ab. Ich schwieg, denn Zahlen hatte auch ich nicht parat.
Zahl der Pflegekräfte ist um bis zu 40 Prozent gestiegen
Wie gut, dass es jetzt Zahlen gibt. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung (Dip) registrierte Ende März für Nordrhein-Westfalen in einer Studie einen Höchststand an qualifizierten Pflegekräften (274.396) für Juni 2021. Zum Internationalen Tag der Pflege (12. Mai) hat das Statische Bundesamt diesen Trend für die gesamte Republik bestätigt: In den Krankenhäusern ist die Zahl der Pflegekräfte zwischen 2010 und 2020 um 18 Prozent gestiegen, in der Altenpflege zwischen 2009 und 2019 um 40 Prozent.
Wie kann es sein, dass trotzdem so viele Pflegeverbände, Parteien, Publikumsmedien und auch Fachmedien geradezu besessen sind vom Pflexit, wenn es keinen Pflexit gibt? Es hängt, so mein Verdacht, zu einem großen Teil mit den geradezu endemischen Online-Umfragen in der Pflege zusammen. Sie sind seit Jahren populär, während der Corona-Pandemie schossen sie wie Pilze aus dem Boden.
Jobportal pflegen-online.de empfiehlt:
Überlegen Sie, aus dem Beruf auszusteigen? – Was für eine Frage …
Die Autoren dieser Online-Umfragen erkundigen sich bei Teilnehmern routinemäßig, ob sie ständig/häufig/manchmal/gelegentlich/nie daran denken, aus dem Beruf auszusteigen. Da kommt es schon mal vor, dass eine beträchtliche Prozentzahl sagt, sie würde manchmal oder häufig daran denken, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Und diese Prozentzahl erscheint dann landauf landab in Presse, Fernsehen, Radio und sozialen Medien.
Dabei sind die Ergebnisse dieser Befragungen aus vier Gründen mit Vorsicht zu genießen:
- Sie geben keine Auskunft über die tatsächlichen Ausstiege.
- Die Befragten werden nicht aktiv gesteuert nach einem Zufallsprinzip ausgewählt (es sind keine randomisierten Befragungen). Es gibt also eine gewisse Verzerrung (Bias): Erfahrungsgemäß haben bei solchen Befragungen eher die Unzufriedenen den Impuls, sich zu äußern (zumal bei den Befragungen fast nie ein Gewinn in Aussicht gestellt wird).
- Wie sehr spricht die Aussage „Ich denke häufiger/gelegentlich über einen Ausstieg nach“ dafür, dass jemand tatsächlich bald aussteigt? Wie verbreitet ist es generell, dass Menschen den Wunsch hegen, aus ihrer beruflichen Tätigkeit auszubrechen und „mal etwas ganz anderes zu machen“?
- Wir wissen nicht, wie die Stimmung in anderen Berufsgruppen ist, sie werden kaum gefragt. Vom Marburger Bund (Gewerkschaft der Klinikärzte) gab es kürzlich allerdings eine Befragung. Das Ergebnis: „Ein Fünftel der Befragten (20 Prozent) plant „definitiv“ seine berufliche Zukunft außerhalb des Krankenhauses, etwa 56,5 Prozent sind noch unentschieden und nur 23,5 Prozent planen keinen konkreten Tätigkeitswechsel.“
So gewinnt man keine klugen Schulabgänger
Sicherlich ist es richtig, die Unzufriedenheit der Pflegekräfte publik zu machen und für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Richtig ist auch, auf die zunehmenden Belastungen hinzuweisen, etwa durch die extrem gestiegene Zahl der Pflegebedürftigen und Patienten. Ja, und es stimmt, es werden noch viel mehr Pflegekräfte gebraucht. Aber der simplifizierende Umgang mit den Online-Befragungen ist destruktiv, wenn der Eindruck entsteht, Pflegekräfte würden in Scharen frustriert aus dem Beruf fliehen. Kluge und Intelligente Schulabgänger, wie sie jetzt benötigt werden in der Pflege, sind auf diese Weise nicht zu gewinnen.
Es lohnt sich, die Formulierung des Marburger Bundes oben genau zu lesen: Es geht bei der Zufriedenheitsbefragung der Klinikärzte um die Arbeit im Krankenhaus, nicht um den Beruf an sich. So viel Differenzierung – und ein bisschen weniger Katastrophen-Rhetorik – würden auch den Vertretern der Pflegeberufe guttun.
Autorin: Kirsten Gaede
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