Für die stationären Pflegeeinrichtungen begann das Jahr 2017 gut. Dank es PSG II erhielten alle Pflegebedürftigen, die vorher eine Pflegestufe hatten, automatisch einen Pflegegrad – oft sogar einen sehr hohen. Die Entgelte für die Heime stiegen. Doch bei jeder neuen Begutachtung fallen die Pflegegrade nun niedriger aus. Das neue Begutachtungsinstrument ist eine scharfe Lanze. Wo früher Minuten addiert wurden, werden heute Grade der Selbstständigkeit herausgefunden. Sechs Module und 64 Teilbereiche sollen ein differenziertes Bild des Pflegebedürftigen ergeben. Worauf sich Einrichtungen einstellen müssen, hat Jutta König (Foto unten) in ihrem bereits 2016 erschienen Buch „Das neue Begutachtungsinstrument“ prägnant beschrieben. pflegen-online.de bat sie jetzt um ein Zwischenfazit.
pflegen-online: Wie kommen nach Ihrem Eindruck die Heime mit dem Neuen Begutachtungsinstrument (NBI) zurecht?
Jutta König: Sehr unterschiedlich. Wenige können mit Fug und Recht behaupten, dass es gut läuft. Manche denken zwar, es liefe gut, doch schaut man sich die Verteilung der Pflegegrade an, erkennt man, dass sicher 5 Prozent der Pflegebedürftigen falsch eingestuft sind. Andere Einrichtungen verpassen die Chance eines systematischen Pflegegradmanagements. Es wird nicht aktiv nach Höherstufungspotenzialen geschaut.
In einigen Einrichtungen, gerade in Ballungsgebieten, ist der Kampf um die Fachkräfte so heftig, dass dies das einzig dominierende Thema ist. Alles andere steht hinten an. Es gibt sogar Einrichtungen, die mir offen berichten, dass sie keine Höherstufungsanträge stellen. Sie würden dann nur noch mehr Personal benötigen, um die Fachkraftquote zu erfüllen. Doch Personal ist ohnehin schon zu knapp.
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pflegen-online: Konnten sich die stationären Einrichtungen überhaupt so schnell einarbeiten?
Jutta König: „Schnell“ ist ja relativ. Immerhin wurde das PSG II im Dezember 2015 verabschiedet. Damit war klar, dass der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ein Jahr später vorliegen würde. Und die Begutachtungsrichtlinien lagen auch im Sommer 2016 vor. So blieb es an den Einrichtungen selbst überlassen, sich vorzubereiten und die verbleibende Zeit bis zum 1. Januar 2017 aktiv zu nutzen.
Einige haben ihre Mitarbeiter bereits 2016 geschult und das Wissen 2017 nochmal aufgefrischt. Diese Einrichtungen haben somit weitgehend die Pflegegrade, die sie benötigen. Andere Einrichtungen haben sich nicht wirklich mit dem PSG II und seinen Folgen befasst. Sie waren der irrigen Meinung, das würde sich schon alles wieder geben.
Viele Einrichtungen haben ihre Mitarbeiter zumindest kurz geschult, sind dann aber nicht drangeblieben. Die Folge: Wird der beantragte Pflegegrad wider Erwarten nicht gewährt, fehlt das Verständnis für diese Entscheidung und leider auch die Kompetenz, mit guten Argumenten dagegen anzugehen. Im Zweifel wird auf das System geschimpft.
pflegen-online.de: Wie schaffen es die Heime, alle Mitarbeiter und PDL zu schulen? Gibt es Seminare, Inhouse-Schulungen oder ähnliches?
Jutta König: Auch hier zeigen sich sehr unterschiedliche Herangehensweisen: Die Schulungen reichen von einer einzigen Stunde – oft direkt nach der Übergabe –, über flächendeckende Informationen nach dem Gießkannenprinzip bis hin zu Expertenschulungen für Einzelne. Von externen Schulungen bis hin zu Inhouse- Veranstaltungen ist dabei alles vorhanden.
pflegen-online.de: Manche Heime erleiden offenbar Einnahmebußen – gibt es Möglichkeiten gegenzusteuern?
Jutta König: Diese Einbußen kommen dadurch zustande, dass die Umrechnung von Pflegestufen zu Pflegegraden bei einer großen Anzahl Pflegebedürftiger sehr positiv verlief. Das kam durch den sogenannten „Doppelsprung“ für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz zustande: Diese Pflegebedürftigen kamen vielfach in einen höheren Pflegegrad als sie heute nach korrekter Berechnung bekommen würden. Versterben nun diese „Altkunden“ erhalten neue Pflegebedürftige nicht mehr den entsprechend hohen Pflegegrad eines Kunden von früher.
Die Folge sind Umsatzeinbußen gegenüber den Einnahmen des Frühjahres 2017. Es wird sicher noch einige Monate dauern, bis die Einrichtungen einen realen Pflegegradmix und somit künftig solide berechenbare Heimentgelte haben.
Ein Gegensteuern im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Einrichtungen, die den Doppelsprung-Effekt eingeplant haben, haben keine „Einbußen“. Sie wissen jetzt schon, wo sich die Entgelte künftig in etwa einpendeln werden. Einrichtungen, die den Doppelsprung-Effekt nicht eingeplant haben, werden künftige Einbußen nicht auffangen können. Denn man wird voraussichtlich den hohen Pflegestufenmix aus dem Januar 2017 nicht mehr erreichen oder halten können. Gelingt es, den hohen Mix zu halten, wird sich die Anzahl der Pflegebedürftigen reduzieren. Denn gerade für Menschen mit niedrigeren Pflegegraden gibt es hohe finanzielle Anreize, zu Hause wohnen zu bleiben.
pflegen-online: Gibt es Fehler bei der neuen Begutachtung, die Pflegekräfte in der Altenpflege immer wieder machen?
Jutta König: Der Hauptfehler ist es, immer noch im alten System zu denken und zu argumentieren. Zu gern wird noch erläutert, was man in der Pflege alles tut und leistet. Ebenso beliebt ist die Darstellung, wie schwierig es ist, diesen Menschen zu pflegen und wie aufwendig die Pflege ist. Dabei ist nichts mehr davon relevant: ob nun Versorgung zu zweit, oder 150 Kilogramm Körpergewicht, ob Kontrakturen oder Erblindung – alle erschwerenden Faktoren der Pflege zählen nicht mehr.
Ein weiterer Fehler ist die mangelhafte Vorbereitung der Begutachtung. Da wird der Gutachter von jener Pflegefachkraft empfangen, die gerade Dienst hat. Das ist aber nicht unbedingt jene Pflegefachkraft, die sich mit der Pflegesituation des Pflegebedürftigen auskennt und auch in Begutachtung geschult ist.
Oft fehlt es den Pflegefachkräften auch an Mut, um den Gutachtern zu widersprechen. Dabei könnten sie durchaus darauf hinweisen, dass sie den Pflegebedürftigen weitaus länger kennen als der Gutachter, der nur wenige Minuten mit diesem Menschen verbringt.
Es ist im Übrigen auch ein Fehler, den Gutachter an das NBI zu binden und von ihm zu fordern, alle sechs Module durchzugehen, statt die relevanten Abschnitte des NBI zu betrachten. Aber diese Beschränkung erfordert natürlich eine genaue Kenntnis des NBI und damit wieder die kompetente und regelmäßige Schulung der Mitarbeiter.
Interview: Claudia Flöer